Infinite Now ist eine Erfahrung, ein Zustand: mitten in einem Morast, in der Gegenwart einer drohenden Katastrophe. Was geschieht, wie lange, wann wird es enden - alles ist unklar. Es ist ein existenzieller Zustand der Nacktheit, in dem das gewöhnliche Gefühl von Kontrolle und Vernunft wegfällt. Diese Situation ist uns irgendwie vertraut, wir erleben sie bis zu einem gewissen Grad unser ganzes Leben lang, auch wenn das Außergewöhnliche nicht eintritt. In dem Maße, wie die Verbreitung von Informationen zunimmt und die politischen Situationen um uns herum prekärer und unberechenbarer erscheinen, bekommen wir alle einen kleinen Vorgeschmack auf dieses Gefühl der nackten Hilflosigkeit. Wenn jedoch ein Krieg ausbricht oder eine Katastrophe eintritt, ändert sich etwas grundlegend, da die letzten Reste von Sicherheit und Routine verschwinden. Es ist eine Extremsituation, auf einer existentiellen Ebene. Aber sie birgt auch die Chance für eine außergewöhnliche Begegnung mit der Welt, die ihre ganz eigene Perspektive und langfristigen, historischen und persönlichen Konsequenzen mit sich bringt. In gewisser Weise ist solch ein Morast eine Blockade, die die Entwicklung der Dinge aufhält und dann zu einer plötzlichen Veränderung führen könnte. Diese liegt in der Luft, und ihre intuitive Präsenz ist äußerst eindringlich, gleichzeitig beängstigend und hoffnungsvoll.
Die Oper bedient sich an Texten zweier Quellen: einer Kurzgeschichte: Homecoming des gefeierten chinesischen Schriftstellers Can Xue, und das Stück FRONT (Luk Perceval), das auf Im Westen nichts Neues von Erich Maria Remarque basiert, sowie auf Briefen von Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg, die von Luk Perceval zusammengestellt und zu einem Theaterstück geformt wurden. Beide Texte setzen das Geschehen aus; die Menschen können sich nicht aus einer statischen Situation befreien. In FRONT befinden sich die Soldaten in den Schützengräben, gefangen in Kämpfen, die nicht enden: sie bewegen sich einige Kilometer vorwärts, nur um in einem verzweifelten tödlichen Kreislauf wieder an ihre frühere Position zurückzukehren. In Homecoming dachte eine Frau daran, durch ein Haus zu gehen und ihre Reise fortzusetzen, aber dann wird ihr allmählich klar, dass es unmöglich ist, das Haus zu verlassen, das sich auf einer Klippe über einem Abgrund befindet, wo ein stiller alter Mann als illusionärer Führer dient und mit seiner Anwesenheit etwas Trost spendet.
Homecoming mit seiner chaotischen inneren und äußeren Landschaft und FRONT mit der erweiterten Kriegssituation und den verschiedenen Formen des Leidens, die sie verursacht, sind beides Zeugnisse dessen, was ich das wilde unkontrollierte Atmen der Welt nennen möchte, während sie sich auf einen Zustand der Entropie zubewegt, oder auf Veränderung, die unvermeidlich ist. Die tiefere Bedeutung ist hier nicht nur eine historische. Die langsame Verschmelzung zweier scheinbar nicht miteinander verbundener Welten bildet eine Art Amalgam. Und dieses weist auf einen Geisteszustand von solcher Schwierigkeit und Hilflosigkeit hin, dass man, um zu überleben, den Willen zum Weitermachen finden und Hoffnung in dem einfachsten Bestandteil des Daseins, dem Atmen, finden muss. Wie David Grossmann sagt: „Im Schmerz ist der Atem‟. In diesem Sinne werden die gesprochenen und gesungenen Inhalte am Ende zwar stark und sehr einfühlsam und präsent, aber sie werden auch wie Inseln inmitten von Wind und Atmung, die langsam alles bedecken wie Sand in einem Sandsturm in der Wüste.
In diesem Sinne geht es in der Oper um mehr als um Homecoming oder den Ersten Weltkrieg. Es geht um unsere Existenz hier und heute. Wie wir überleben, wie wir dazu bestimmt sind, zu überleben, und wie selbst der kleinste Funken Lebensfreude Überleben und damit vielleicht auch die Hoffnung rettet.
Chaya Czernowin