Opera Ballet Vlaanderen

Infinite Now

Czernowin
Diese Vorstellung ist nicht mehr als Video auf unserer Plattform verfügbar. Sie können aber weiterhin das zusätzliche Material der Produktion nutzen.

In den Schützengräben sind die Soldaten in endlose Kämpfe verwickelt: Sie bewegen sich einige Kilometer vorwärts, um dann in einem tödlichen Kreislauf wieder an ihre frühere Position zurückzukehren. Anderswo kehrt eine Frau in ein Haus zurück, das sie einst kannte, und findet es nun am Rande eines Abgrunds vor. Als sie es verlassen will, stößt sie auf unerklärliche Hindernisse.

Chaya Czernowins erschütternd erhabenes Werk Infinite Now verwebt zwei scheinbar unzusammenhängende Handlungsstränge - Luk Percevals Theaterstück FRONT nach Erich Maria Remarques Roman Im Westen nichts Neues und Can Xues Novelle Heimkehr -, die beide die urmenschliche Verstrickung und existentielle Nacktheit und darüber hinaus den Überlebenswillen ansprechen.

Besetzung

Sopranistinnen
Karen Vourc’h
Mezzo soprano
Kai Rüütel
Alto
Noa Frenkel
Contratenor
Terry Wey
Baritone
Vincenzo Neri
Bass
David Salsbery Fry
Paul Bäumer
Rainer Süβmilch
Katczinsky
Benjamin-Lew Klon
Lieutenant De Wit / Van Outryve
Didier De Neck
Colonel Magots
Gilles Welinski
Soldier Seghers
Roy Aernouts
Sister Elisabeth
Oana Solomon
Guitar
Nico Couck
Electric Guitar
Yaron Deutsch
Violoncello
Christina Meissner, Séverine Ballon
Orchester
Symfonisch Orkest Opera Ballet Vlaanderen
...
Musik
Chaya Czernowin
Dirigent
Titus Engel
Inszenierung
Luk Perceval
Bühne
Philip Bussmann
Licht
Mark Van Denesse
Kostüme
Ilse Vandenbussche
IRCAM Computer Musik Design
Carlo Laurenzi
IRCAM Sound Engineer
Sylvain Cadars
Electronics
Carlo Laurenzi and Chaya Czernowin
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Video

Hinter den Kulissen

Hinter den Kulissen von Infinite Now

Ein Mini-Dokumentarfilm über die Entstehung der Produktion Infinite Now des Opera Ballet Vlaanderen, komponiert von Chaya Czernowin.

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Handlung

Infinite Now ist eine Erfahrung, ein Zustand: mitten in einem Morast, in der Gegenwart einer drohenden Katastrophe. Was geschieht, wie lange, wann wird es enden - alles ist unklar. Es ist ein existenzieller Zustand der Nacktheit, in dem das gewöhnliche Gefühl von Kontrolle und Vernunft wegfällt. Diese Situation ist uns irgendwie vertraut, wir erleben sie bis zu einem gewissen Grad unser ganzes Leben lang, auch wenn das Außergewöhnliche nicht eintritt. In dem Maße, wie die Verbreitung von Informationen zunimmt und die politischen Situationen um uns herum prekärer und unberechenbarer erscheinen, bekommen wir alle einen kleinen Vorgeschmack auf dieses Gefühl der nackten Hilflosigkeit. Wenn jedoch ein Krieg ausbricht oder eine Katastrophe eintritt, ändert sich etwas grundlegend, da die letzten Reste von Sicherheit und Routine verschwinden. Es ist eine Extremsituation, auf einer existentiellen Ebene. Aber sie birgt auch die Chance für eine außergewöhnliche Begegnung mit der Welt, die ihre ganz eigene Perspektive und langfristigen, historischen und persönlichen Konsequenzen mit sich bringt. In gewisser Weise ist solch ein Morast eine Blockade, die die Entwicklung der Dinge aufhält und dann zu einer plötzlichen Veränderung führen könnte. Diese liegt in der Luft, und ihre intuitive Präsenz ist äußerst eindringlich, gleichzeitig beängstigend und hoffnungsvoll.

Die Oper bedient sich an Texten zweier Quellen: einer Kurzgeschichte: Homecoming des gefeierten chinesischen Schriftstellers Can Xue, und das Stück FRONT (Luk Perceval), das auf Im Westen nichts Neues von Erich Maria Remarque basiert, sowie auf Briefen von Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg, die von Luk Perceval zusammengestellt und zu einem Theaterstück geformt wurden. Beide Texte setzen das Geschehen aus; die Menschen können sich nicht aus einer statischen Situation befreien. In FRONT befinden sich die Soldaten in den Schützengräben, gefangen in Kämpfen, die nicht enden: sie bewegen sich einige Kilometer vorwärts, nur um in einem verzweifelten tödlichen Kreislauf wieder an ihre frühere Position zurückzukehren. In Homecoming dachte eine Frau daran, durch ein Haus zu gehen und ihre Reise fortzusetzen, aber dann wird ihr allmählich klar, dass es unmöglich ist, das Haus zu verlassen, das sich auf einer Klippe über einem Abgrund befindet, wo ein stiller alter Mann als illusionärer Führer dient und mit seiner Anwesenheit etwas Trost spendet.

Homecoming mit seiner chaotischen inneren und äußeren Landschaft und FRONT mit der erweiterten Kriegssituation und den verschiedenen Formen des Leidens, die sie verursacht, sind beides Zeugnisse dessen, was ich das wilde unkontrollierte Atmen der Welt nennen möchte, während sie sich auf einen Zustand der Entropie zubewegt, oder auf Veränderung, die unvermeidlich ist. Die tiefere Bedeutung ist hier nicht nur eine historische. Die langsame Verschmelzung zweier scheinbar nicht miteinander verbundener Welten bildet eine Art Amalgam. Und dieses weist auf einen Geisteszustand von solcher Schwierigkeit und Hilflosigkeit hin, dass man, um zu überleben, den Willen zum Weitermachen finden und Hoffnung in dem einfachsten Bestandteil des Daseins, dem Atmen, finden muss. Wie David Grossmann sagt: „Im Schmerz ist der Atem‟. In diesem Sinne werden die gesprochenen und gesungenen Inhalte am Ende zwar stark und sehr einfühlsam und präsent, aber sie werden auch wie Inseln inmitten von Wind und Atmung, die langsam alles bedecken wie Sand in einem Sandsturm in der Wüste.

In diesem Sinne geht es in der Oper um mehr als um Homecoming oder den Ersten Weltkrieg. Es geht um unsere Existenz hier und heute. Wie wir überleben, wie wir dazu bestimmt sind, zu überleben, und wie selbst der kleinste Funken Lebensfreude Überleben und damit vielleicht auch die Hoffnung rettet.

Chaya Czernowin

Einblicke

Vergessen wir das Unvergessliche

Ein Interview mit Regisseur Luk Perceval über Infinite Now

Infinite Now ist keine herkömmliche Oper. Es gibt keine dramatische Handlung, Charaktere, Text oder Musik im klassischen Sinne. Können Sie Menschen ohne Vorkenntnisse sagen, um welche Art von Werk es sich genau handelt?

Luk Perceval: Ich würde es eine Art Pandämonium von Klängen, Stimmen, Fragmenten der Stille nennen. Ich kann nur sagen, was es für mich bedeutet. Es ist eine Darstellung dessen, wie die Psyche funktioniert, nämlich assoziativ, erinnernd, auf viele Ebenen zurückfallend; in dem Sinne, dass sie unter anderem Elemente des Zweiten Weltkriegs - kurz: Trauma - enthält. Aber auch Klänge oder Fragmente, die mit der Natur assoziiert werden. Es ist auch eine Geschichte über die Sehnsucht nach dem Tod, die Angst. Nach dem heutigen Stand der Neurowissenschaften ist unser Verstand in erster Linie darauf ausgerichtet, Gefahr oder das, was von der Angst diktiert wird, zu erkennen. Gleichzeitig geht es aber auch darum, sich vom Unbekannten angezogen zu fühlen. Diese Elemente sind Teil von Infinite Now.

Für mich sind dies alles Elemente, die, wenn man die Funktionsweise des Geistes untersucht, auftauchen und wieder verschwinden. Was geschieht in dem Moment, in dem man versucht, sich zu konzentrieren oder wahrzunehmen, was Stille ist? Das ist es, was ich mit dem Pandämonium der Stille meine. Stille an sich existiert nicht. Sie ist immer die Summe der realen Geräusche einerseits und der Assoziationen mit diesen Geräuschen andererseits sowie der Erinnerungen, die Geräusche und Emotionen hervorrufen.

Musikalisch würde ich sagen ist es ein assoziativer Raum, nicht gerade eine epische Geschichte oder eine Melodie, aber das ist für mich persönlich Musik. Denn es ist eine Meditation, in der die Musik uns mit der Musik des Lebens konfrontiert. Es geht nicht nur um die Musik, die man wahrnehmen kann, sondern auch um die Musik, die man mit ihr assoziiert.

Wie ist es, mit einer völlig neuen Komposition zu arbeiten? Welche Auswirkungen hatte dies auf die Regie?

Perceval: Ich wollte, dass sich der Schaffensprozess so einwickelt. Man hat als Künstler immer damit zu tun, dass das Publikum in der Regel mit dem bedient wird, was es kennt, mit dem Kanon des Repertoirebetriebs oder dem Repertoire der Literatur oder der Oper, wie es hier der Fall ist. Folglich geht man mit gewissen Erwartungen ins Theater. Ich wollte das Publikum mit etwas völlig Neuem konfrontieren, mit wirklich neuer Musik. Ich versuche das zu entdecken, was während der Proben passiert und welche Impulse auf mich zukommen. Es ist also keine Form der Regie, auf die man sich vorbereiten kann - aber eigentlich ist das etwas, was ich schon lange nicht mehr mache.

Der Unterschied besteht natürlich darin, dass man als Theatermacher ausgehend von einem Text während der Proben immer wieder streichen und anpassen kann, während man im Fall von Infinite Now in einen praktisch mathematisch vorgegebenen Entwurf eintitt: Es gibt die Partitur, die Musik als feste Vorgabe. Und das ist anders, weil man sich die Dynamik dieser Musik und das, was sie bewirkt, anschauen muss.

Wie ist die Beziehung zwischen den beiden Textquellen FRONT und Homecoming?

Perceval: Für mich ist es hier eine einzige Geschichte. Als Zuschauer wird man immer versuchen, die Dinge in dem Moment zu verstehen, in dem man sie beobachtet. In dem Moment, in dem Worte gesprochen werden, beginnt man nach einer Art Logik zu suchen und stellt sich die Frage: Was ist der Zusammenhang? Ich entdecke jeden Tag aufs Neue, wie es eine einzige Geschichte ist; denn sie ist Ausdruck der Suche nach der Verbindung zwischen den Dingen im Kopf - es geht um jemanden, der sie entdeckt. Und bei dieser Entdeckung spielen auch gewisse Anklänge aus der Vergangenheit, Anklänge an den Krieg eine Rolle. Es sind Echos, die uns alle in Europa vereinen - das Trauma des Krieges, das noch mehrere Generationen später nachklingt.

Andererseits ist es eine sehr intensive Suche, an der alle Menschen beteiligt sind: Wie kann ich mich davon befreien, wie kann ich mich von einer solchen Vergangenheit reinigen? Was ist überhaupt Entwicklung? Bedeutet das Vergessen, Zurückhalten, Erleben? Ich glaube, man kann Dinge nicht vergessen. In dieser Hinsicht läuft die Geschichte von Infinite Now auf eines hinaus: Es geht im Wesentlichen darum, zu suchen, die Angst und die Vergangenheit loszulassen.

Welche Rolle spielt die Musik in diesem Entdeckungs- und Reinigungsprozess? Welche Bedeutung sollte dieser Arbeit beigemessen werden?

Perceval: Ich entdecke mehr und mehr, dass Chayas Partitur äußerst introspektiv und daher gleichzeitig sehr komplex ist. Für mich ist sie immer noch ein Abenteuer, eine Art Entdeckungsreise. Für Infinite Now sollten Sie alle Erwartungen über Bord werfen. Anfänglich nannte ich das Meditation. Ich fand es bisher sehr inspirierend, dass das, was sie entwickelt hat, eine so große Konzentration erfordert. Diese Arbeit zwingt uns zum Innehalten und Nachdenken und zum bewussten Erleben mit allen unseren Sinnen.

Diese Arbeit kann natürlich eine ungeheure Provokation sein. Es gibt zum Beispiel sehr wenige Menschen, die noch stillsitzen können. Und hier fordern wir eine ganz andere Haltung, eine Haltung, von der ich überzeugt bin, dass sie in der Kultur und in der Zeit, in der wir leben, notwendig ist - eine Haltung, die nicht mehr kultiviert wird und daher gegen den Zeitgeist verstößt. Aber ich glaube, das ist auch der Grund, warum wir Kunst schaffen: Um gegen den Zeitgeist anzugehen. Um zu sagen: Schauen Sie, was passiert, wenn man alle Ablenkungen beiseite lässt und sich auf eine neue Erfahrung konzentrieren muss. Was ich faszinierend daran finde, ist, dass es Wahrnehmungsschichten gibt, die wir alle in uns haben, sie aber vergessen haben; dass es Dinge gibt, die in uns mitschwingen, die in uns vorhanden sind.