Elviras Traumfabrik

Bellinis musikalische Gestaltungskraft entfesselt sich

In I puritani hat Bellini sich neu erfunden. Zwei Voraussetzungen haben sich dabei ausgewirkt. Erstens musst Bellini erstmals seit seinem Durchbruch mit Il pirata (1827) ohne Felice Romani zurechtkommen, mit dem er sieben seiner seither insgesamt neun Opern geschaffen hatte. Bellinis wortbezogenes Komponieren hatte sich immer wieder an der Eleganz von Romanis Versen entzündet, welcher ihm mit seinen stringenten Adaptionen französischer und italienischer Dramen und Romane durchdachte und gut strukturierte Libretti geliefert hatte. 

Nach dem Zerwürfnis mit Romani aufgrund gegenseitiger Schuldzuweisungen am Fiasko der Beatrice di Tenda (1833) entschied Bellini, seine neue Oper für das Pariser Théâtre Italien in Zusammenarbeit mit dem im Pariser Exil lebenden Lyriker Carlo Pepoli zu schaffen. Pepoli, der keinerlei Theatererfahrung besaß, war kein gleichberechtigter, sondern ein reagierender Partner. Das dramaturgische Kalkül Romanis, seine rationale Kontrolle des Schaffensprozesses entfiel. Dies trug zu einer rauschhaften Entfesselung und Eigendynamik von Bellinis musikalischer Gestaltungskraft bei, die die szenische Logik immer wieder transzendiert.

Zweitens steigerte melodisch-harmonischen Entgrenzung seines Komponierens das „ozeanische Gefühl“ noch einmal. In dieser seiner einzigen nicht für Italien geschriebenen Oper hat Bellini seinem Schaffen den harmonischen und koloristischen Reichtum der nachklassischen Orchesterkultur erschlossen, der in Frankreich traditionell auch in der Oper ein hohen Stellenwert einnahm. Es ist das instrumentale Gewebe, das zwischen den einzelnen Nummern motivischen und melodischen Zusammenhang stiftet. Die Staffelung und Ausweitung des Klangraumes durch die räumliche Aufstellung von Solostimmen, Chor und Instrumentengruppen jenseits des Bühnenraumes führt zu fast schon impressionistischen Effekten.

Die Verklärung der puritanischen Welt

So hat auch das orchestrale Geschehen entscheidend Anteil an Bellinis kompositorischer Strategie, die eher auf die rauschhafte Steigerung und Verzauberung des szenischen Geschehens zielt als auf dessen musikdramaturgische Beglaubigung. Dass seine schönheitstrunkene Musik die von Musik-, Tanz- und Theaterverboten geprägte Welt der Puritaner verklärt, ist wohl das entwaffnendste Geschenk, das Bilderstürmern je zuteil geworden ist. Und so ist diese Oper, in der Bellini sich am dichtesten der Ästhetik des mit Realien gesättigten Historiendramas anzunähern scheint, in Wahrheit unter allen seinen Opern die einzig phantastische, ja märchenhafte. 

Genau um dieses Paradoxes willen muss sich unsere Inszenierung auf das Spiel mit der historischen Imagerie des englischen Bürgerkriegs einlassen, wenn anders deren phantastische Verfremdung theatralisch konkret erfahrbar werden soll. Mit einer großartigen Phantasieleistung deutet die Musik das szenische Geschehen immer wieder selbstherrlich um und beugt es unter ihr eigenes Gesetz. Man ist versucht zu sagen: Die Partitur unterzieht die Narration des Librettos ihrer Traumarbeit im Dienste halluzinatorischer Wunscherfüllung. Der „Wahnsinn“, die Schizophrenie Elviras ist nicht allein ein wesentliches Moment der Handlung. Die Flucht aus einer unerträglichen Realität in die Phantasie ist weniger von außen geschildertes Handlungsmoment, als dass sie die Erzählform begründet und sich vor den Sinnen der Zuschauer offen vollzieht. Die Dramaturgie von I puritani zeigt uns die Traumfabrik Elviras bei der Arbeit. 

Eben noch haben die puritanischen Glaubenskrieger angekündigt, „das Lager der Stuarts in Asche zu verwandeln“, da lässt man die Zugbrücke der doch eigentlich belagerten Burg herab, um einem gefürchteten Krieger der Gegenseite einen umjubelten Empfang zu bereiten – mitten im Verlauf eines Kriegsgeschehens, das sich über alle drei Akte der Oper erstreckt. Der Librettist hält es nicht einmal für notwendig, Arturo mit einer in solchen Fällen üblichen vorgetäuschten Identität zu versehen.

Verdoppelungen und Traumgedanken

Mit Arturo steht also plötzlich auch ein „zweiter Bräutigam“, und diesmal: der Wunschbräutigam vor der Tür. Wenig später wird Arturo von Elviras Vater ein Passierschein ausgehändigt, der dem Paar das Verlassen der Festung ermöglicht. Im gleichen Atemzug erklärt Elviras „erster Vater“, warum er an der Hochzeit nicht teilnehmen wird, bei der ihn Giorgio als „zweiter Vater“ vertreten soll: Er muss eine politische Gefangene dem Parlament in London vorfü hren, was einem Todesurteil gleichkommt. Elviras Traum zerbricht, da mit der Gefangenen letztlich auch noch eine „zweite Braut“ auf den Plan getreten ist, die, gehüllt in Elviras weithin wehenden Schleier, an der Seite Arturos in die ersehnte Freiheit davonstürmt.

So erweisen sich auf psychoanalytischer Ebene alle Ungereimtheiten, die die Erzählung dieser Oper zu disqualifizieren scheinen, als erstaunlich kohärent. Der – in Freuds Terminologie – „latente Traumgedanke“ dieser Oper liegt in der Identifikation Elviras mit der Gefangenen aufgrund der gemeinsamen existentiellen Bedrohung durch die Befehlsgewalt des Vaters; der zugrundeliegende Wunsch ist die Evasion aus dessen Machtbereich.

Aus einem längeren Artikel von Sergio Morabito, der erstmals im Juli 2016 im Programmbuch erschien.