Die unbändige Sehnsucht nach Authentizität

Der Dramaturg Koen Bollen betrachtet historische Darstellungen weiblicher Wassergeister und fragt den Regisseur Alan Lucien Øyen, ob Rusalka vorwiegend eine magische Extravaganz oder auch eine nachdenkliche Parabel über das Menschsein ist.

Mit Rusalka schuf der tschechische Komponist Antonín Dvořák (1841-1904) eines der faszinierendsten, vielschichtigsten und musikalisch brillantesten Werke des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Der tschechische Schriftsteller und Dramaturg Jaroslav Kvapil schrieb das Libretto, das von Hans Christian Andersens Die kleine Meerjungfrau und der düsteren Undine von Friedrich de la Motte Fouqué inspiriert wurde, wobei er auch Elemente aus Die versunkene Glocke von Gerhart Hauptmann einfließen ließ. Kvapil und Dvořák verbinden diese westeuropäischen literarischen Quellen mit den slawischen Ursprungsmythen der Rusalki, weiblichen Wassergeistern mit einer ganz besonderen Geschichte. Das Ergebnis war eine tief ergreifende lyrische Partitur mit einer einfallsreichen Instrumentierung, die die Märchenfiguren überzeugend in eigenständige, komplexe Charaktere verwandelt.

Der weibliche Wassergeist inspiriert seit Jahrtausenden Mythen, Sagen und Legenden. Ihre flüchtige Schönheit und dunkle Bedrohung taucht immer wieder in unzähligen Werken der Literatur und Musik auf. Die griechische Sirene, die französische Melusine, die deutsche Undine und die slawische Rusalka sind Variationen der rätselhaften Figur der Meerjungfrau. Meerjungfrauen, wie wir sie heute kennen, erschienen erst im Mittelalter. Im christlichen Europa wurde Odysseus zum Prototyp des wahren Christen, der den verlockenden Sirenen widerstehen konnte. Im Jahre 1590 beschrieb der deutsche Arzt Paracelsus in seinem Liber de nymphis, sylphis, pygmaeis et salamandris et de caeteris spiritibus den weiblichen Wassergeist als ein Wesen, dem eine unsterbliche Seele fehlt, das aber durch die Heirat mit einem Menschen eine solche erlangen kann.

Das neunzehnte Jahrhundert war ein goldenes Zeitalter für Wassergeister. Das Aufkommen der Moderne und die industrielle Revolution wurden von einer Gegenbewegung in der Kunst begleitet. In der Romantik wurden Phantasie und Natur, und damit auch Wassergeister, wieder ein wichtiges Thema. Der deutsche Schriftsteller Fouqué stützte seine einflussreiche Novelle Undine (1811) auf die Tradition des seelenlosen Wassergeistes, wie Paracelsus ihn beschrieb. Undines Vater will, dass seine Tochter einen Menschen heiratet und damit eine Seele bekommt. Schließlich nimmt der Ritter Huldbrand Undine auf sein Schloss mit, wo seine Liebe zu ihr zugunsten einer anderen Frau schwindet. Nach den Gesetzen der Natur muss Undine Huldbrand mit einem Kuss töten.

Undine wurde zu einer der Inspirationsquellen für den Märchenschreiber Hans Christian Andersen. Er veröffentlichte 1837 seine Geschichte von der Kleinen Meerjungfrau. Auch sie sehnt sich nach der Liebe eines Mannes. Im Tausch gegen eine menschliche Gestalt überlässt sie ihre Stimme der Meerhexe. Wenn sie die Liebe ihres Prinzen gewinnen kann, erhält sie eine menschliche Seele. Ihr Opfer erweist sich jedoch als vergeblich, und der einzige Weg, dem Schicksal zu entgehen, sich in Meerschaum aufzulösen, ist die Tötung des Prinzen. Doch sie weigert sich. Andersens Märchen, und vor allem ihre Weigerung, den Prinzen zu töten, definiert die kleine Meerjungfrau neu. Während sie üblicherweise als passives Objekt der männlichen Fantasie dargestellt wurde, gibt Andersen ihr eine aktive Rolle. Sie ist nicht länger ein Opfer der Natur oder des menschlichen Willens. Sie hat einen eigenen Willen, ein Element, das auch in Dvořáks Rusalka einen zentralen Platz einnimmt.

Die wichtigsten Quellen für die künstlerische Bearbeitung des Märchens durch Kvapil und Dvořák finden sich in der westlichen Literatur, beide Künstler haben aber auch viele Elemente aus der slawischen Volksmythologie übernommen. Im Volksglauben waren die Rusalki Mädchen, die sich selbst ertränkt hatten oder uneheliche - und daher ungetaufte - Mädchen, die durch Ertrinken getötet worden waren. Diese Kinder wurden so zu Opfern, die sowohl von den kirchlichen als auch von den heidnischen Begräbnisriten ausgeschlossen waren und deshalb zusammen mit den hingerichteten Verbrechern und ihresgleichen zu den „unreinen Toten“ gehörten. Der grundlegendste Unterschied zwischen der westlichen Tradition und dieser ostslawischen ist der menschliche Ursprung des Wassergeistes: eine Rusalka ist kein seelenloser Naturgeist, sondern eine verlorene menschliche Seele.

Alan Lucien Øyen, Regisseur
Diese Oper ist eine Geschichte über Entfremdung, über das Gefühl, anders zu sein.

Rusalka ist ein Märchen über Nymphen, eine Meerjungfrau, einen Wassermann, eine Hexe, einen Prinzen und eine Prinzessin“, erklärt Alan Lucien Øyen, der diese neue Produktion an der Opera Vlaanderen inszeniert. „Aber es ist auch die Geschichte eines Vaters, der seine Tochter verliert, eines Mädchens, das alles für ein Gefühl der Zugehörigkeit aufgeben will, eines jungen Mannes, der verwirrt ist über die Erwartungen der Gesellschaft an ihn und schließlich ist die Figur der Hexe auch eine Geschichte von Groll und Bitterkeit für ein Leben, das nie gelebt wurde.“ Der Wunsch, den Realismus des Märchens herauszuarbeiten, war der Ausgangspunkt für den norwegischen Regisseur und Choreographen. Für ihn geht es bei Rusalka im Wesentlichen um das Aufeinandertreffen von unerfülltem Wunsch und unausweichlicher Realität. So unmöglich es für den Einzelnen sein mag, sich einem vorgegebenen Schicksal zu entziehen, so sehr suchen wir doch alle ein authentisches Leben.

In dieser Produktion werden verschiedene Rollen von einer Sängerin und einer Tänzerin gespielt, die sich die Rolle teilen. Dies bietet Øyen eine Möglichkeit, das Libretto sehr direkt umzusetzen und die zugrundeliegenden Gefühle und Beweggründe der Figuren zu enthüllen. „Diese Oper ist eine Geschichte über Entfremdung, über das Gefühl, anders zu sein“, erklärt er. Rusalka durchläuft eine tiefgreifende Transformation, um irgendwo dazugehören zu können, aber das Ergebnis ist, dass sie sich in ihrem neuen Leben mehr denn je entfremdet fühlt. Sie sieht sich weder als Wassergeist noch als Mensch und ist zunehmend verloren und allein. Rusalka ist eine nachdenkliche Erzählung über unseren Wunsch, uns einen Ort zu wählen, an dem wir uns zu Hause fühlen und genau so leben können, wie wir es uns immer gewünscht haben. Die furchtlose Rusalka zeigt uns, wie wir unser Leben selbst in die Hand nehmen und unsere eigene Geschichte erzählen können, selbst angesichts eines scheinbar unausweichlichen Schicksals.

Dieser Text basiert auf einem Artikel von Koen Bollen, der erstmals im Dezember 2019 im Programmheft zu Rusalka erschien.