Die Schneekönigin: eine Märchenoper

1. Geschichte, die vom Spiegel und den Scherben handelt 

In einer dunklen Höhle lebte einst ein böser Troll. Es war einer von den allerschlimmsten, es war der Deubel! Alle jungen Trolle gingen zu ihm in die Trollschule. Doch eines Tages entdeckten zwei junge Trolle an
der mächtigen Eingangstür der Trollhöhle ein Schild: „Heute keine Trollschule. Wichtige Arbeit. Weh dem, der stört!“. Schon seit Wochen war die Trollschule geschlossen. Verdutzt stellten sie fest: „Heute war gestern noch morgen und gestern, da gab es schon auch keine Trollschule nicht! So wie gestern und gestern vor gestern vor gestern vor gestern, als morgen noch gestern vor gestern vor gestern war, fand schon keine Trollschule mehr statt!“

Woran der große Obertroll wohl arbeitete? Leise schlichen sich die neugierigen Jungtrolle in die Höhle und sahen den Deubeltroll hämmern und hobeln, schieben und schaben, rubbeln und reiben, schweißen und schwitzen. Da entdeckte er sie plötzlich und rief: „Was macht ihr da unten? Auf, ab in die Bank!“

Schnell eilten die jungen Trolle auf ihre Plätze und hörten ihrem Lehrer zu, der sprach: „Seht, nun fangen wir an. Und später seid ihr klüger als zuvor. Denn dieser Spiegel hier, den ich geschmiedet, lehrt und zeigt euch die Welt als das, was sie wirklich ist. Ein erbärmlicher lachhafter Witz!“

Der Deubeltroll war so richtig guter Laune, denn er hatte einen magischen Spiegel gemacht, der die Eigenschaft besaß, dass alles Gute und Schöne, das sich darin spiegelte, fast zu Nichts zusammenschmolz.

Aber das, was nichts taugte und übel aussah, wurde darin noch fürchterlicher und größter. Die herrlichsten Landschaften sahen darin aus wie gekochter Spinat, die schönste Musik klang wie ein fürchterliches Krächzen und hatte ein Mensch einen guten Gedanken, dann zeigte sich im Spiegel nichts als eine böse Grimasse. „Haltet der Welt meinen Spiegel vor!“, befahl der Deubeltroll seinen Schülern, „von Westen nach Osten nach Süden bis hoch in den Norden, bis in das Land des ewigen Schnees, fliegt hoch hinauf und tragt ihn bis in den Himmel hinein, bis das ewige All sich im Spiegel entsetze und gar des Allerallerhöchsten schönster Gedanke sich grässlich darin zur Grimasse verzerrt und hohnlachend die Welt in sein Tiefstes erschüttert.“

Mit dem großen Spiegel in den Händen machten sich Trotteltroll und Tölpeltroll auf den Weg. Doch es war gar nicht so leicht den schweren Spiegel zu transportieren! Plötzlich begann er zu rütteln und zu wackeln und zu schütteln. Er rutschte ihnen aus den Händen, stürzte hinab und zersprang in tausend mal tausend und noch einmal tausende Teile.

Und damit verursachten sie ein viel größeres Unglück als zuvor. Denn einige Stücke waren kaum größer als ein Sandkorn und diese flogen ringsumher in die weite Welt. Wo jemand sie ins Auge bekam, da blieben sie und da sahen die Menschen alles verkehrt oder hatten nur Augen für das Verkehrte an einer Sache, denn jede kleine Spiegelscherbe besaß dieselben Eigenschaften wie der ganze Spiegel. Einige Menschen bekamen sogar eine kleine Spiegelscherbe ins Herz und das war am schlimmsten; das Herz wurde nämlich einem Eisklumpen gleich.

Die beiden Jungtrolle fielen mit dem Spiegel hinab zur Erde und landeten mitten im Palast der Schneekönigin. Und was dann geschah – wir werden es hören!

2. Geschichte: Ein kleiner Junge und ein kleines Mädchen

In einer großen Stadt lebten zwei Kinder, ein kleiner Junge und ein kleines Mädchen. Er hieß Kay und sie hieß Gerda. Ihre Eltern wohnten in zwei gegenüberliegenden Dachkammern, vor deren Fenstern zwei große hölzerne Kästen angebracht waren. Darin wuchsen die herrlichsten Rosen. Im Sommer, wenn die Sonne schien und die Rosen blühten, da konnten die Kinder leicht mit einem Sprung zueinander kommen, um auf dem Dach zu spielen. Doch wenn es draußen stürmte und regnete, mussten sie erst viele Stufen zueinander hinab steigen; dann trafen sie sich bei der Großmutter.

An einem verregneten Nachmittag rief Gerda aufgeregt: „Großmutter! Ich glaube es schneit!“

Da entgegnete die Alte: „Im Sommer? Aber nein, Gerda, noch schwärmen die weißen Bienen nicht aus, noch lange nicht, ein kurzes Gewitter, ein Hagelschauer, bald ist er vorbei.“ Da bemerkte Kay: „Wie weiße Bienen fliegen die Schneeflocken im Winter durch die Luft – nur, dass sie keine Königin haben.“ „Doch“, erwiderte die Großmutter, „dort wo im Winter der Schnee am dichtesten fällt, da fliegt sie, die größte von allen, vom Berg herab durch die Straßen der Stadt. Manchmal, da schaut sie zum Fenster hinein und dann frieren sie sonderbar und sehen wie Blumen aus.“

Da wurde Kay übermütig: „Soll sie doch kommen! Dann setz´ ich sie gleich auf den Ofen und freu mich und guck zu, wie sie schmilzt.“

Und als der Hagelschauer vorüber war gingen Kay und Gerda wieder vergnügt hinaus in den Dachgarten.

Nicht eine Rose war durch den Hagel kaputt gegangen und sie sangen ihr liebstes Lied vom Geheimnis der schönen Rosen:

In einem fernen Garten
gar selt´ne Rosen auf uns warten.
Tief in ihren Blüten,
sie scheu ein Geheimnis für dich hüten.
Kannst´s nicht seh´n, kannst´s nicht hörn,
kannst es nur im Herzen spür´n.
Willst du´s fassen, musst du´s lassen
doch lässt du´s ein ins Herze dein
wird es dich durchs Leben führ´n.

Da geriet Kay auf einmal etwas ins Auge und kurz darauf mitten ins Herz. Es brannte und biss wie Feuer und Eis. Gerda erschrak und wollte ihm helfen, doch Kay stieß seine Freundin weg: „Du fass mich nicht an! Was tatschst du denn an mir herum?“

Gerda begann zu weinen: „Aber Kay, was hast du denn plötzlich?“

„Nichts hab ich!“, antwortete Kay, „Höchstens genug! Von dir! Und deinen albernen Rosen!“ Er verspottete ihre schönen Rosen: Krumm, verblüht und wie ein ekelhaftes Dornengestrüpp, sahen sie nun für ihn aus. „Wie hässlich du bist, wenn du weinst!“, sagte er zu seiner Freundin Gerda, riss einer Rose den Kopf ab und ging davon.

Gerda lief zu ihrer Großmutter und während sie sich in ihren Armen trösten lies, brach ein unruhiger Herbststurm los. Tag um Tag, Woche um Woche verstrichen und immer mehr veränderte sich der kleine Kay. Ein winziger Splitter des Zauberspiegels war ihm ins Herz geraten und es wurde mehr und mehr zu Eis. Dann wurde es Winter und Kay wollte nicht mehr mit der kleinen Gerda spielen.

Währenddessen hatten Trotteltroll und Tölpeltroll, die den magischen Spiegel des bösen Obertrolls hatten fallen lassen, die mächtige Schneekönigin kennengelernt. Weil sie ungefragt in ihr Reich geplumpst waren, mussten sie fortan tun, was ihnen befohlen wurde. „Findet den Jungen für mich, der mich auf den Ofen setzen wollte“, befahl die Schneekönigin den Jungtrollen und sie machen sich auf die Suche nach Kay. Als sie ihn gefunden hatten, konnten sie beobachten, wie er Gerdas Großmutter, ihre leckeren Zimtsterne und alten Märchen beleidigte. Viel lieber wollte er nun die kunstvollen, fehlerlosen und perfekten Schneeflocken beobachten, die er am liebsten mit einer großen Lupe betrachtete.

An einem Winternachmittag verwandelten sich die jungen Trolle in normale Kinder. Und auf einem großen Platz, im lebhaften Trubel zwischen vielen weiteren Kindern, die mit ihren Schlitten im Schnee spielten, riefen sie nach Kay. Er nahm seinen Schlitten und folgte den Trollen in den Schnee. Dort entdeckten sie einen viel größeren und wunderschönen Schlitten, er war ganz weiß gestrichen und fuhr schnell um den Platz. Da forderten die Trolle Kay heraus, seinen kleinen Schlitten an dem großen festzubinden. Sie lachten ihn aus - er sei zu klein und der Schlitten viel zu schnell für ihn. Und als es Kay beim dritten Versuch gelang, seinen Schlitten an dem großen zu befestigen, sauste er schon in rasender Geschwindigkeit davon. Kay bekam fürchterliche Angst und bat darum anzuhalten. Nach einer Weile stoppten sie und Kay erblickte die wunderschöne Schneekönigin.

Sie nahm ihn zu sich in den großen Schlitten, wärmte ihn unter ihrem Mantel und küsste ihn auf die Stirn. Oh! Das war kälter als Eis, es ging ihm geradewegs ins Herz, das ohnehin schon zur Hälfte ein Eisklumpen war. Dann küsste die Schneekönigin Kay nochmals und sprach:

Alles was war,
vergeht dir im Kuss.
Kalt fließt und klar,
Verstandeslusts Fluss.
Fest schlägt in Erz
Erkenntnis den Kreis
eng um dein Herz,
das wird nun zu Eis.

Und da vergaß er Gerda, die Großmutter und alle daheim. Der Schlitten aber flog über Wälder und Seen, über Länder und Meere und unter ihnen sauste der kalte Wind. Im Eispalast erwartete ihn ein Rätsel, bei dem er der Schneekönigin helfen sollte. Kay freute sich darauf, denn am liebsten rechnete er Quadrat und Geographie konnte er auch sehr gut.

3. Geschichte: Der Blumengarten bei der Frau, die zaubern konnte

Wie aber erging es der kleinen Gerda, als Kay nicht mehr kam? Inzwischen war es Frühling geworden und Gerda machte sich große Sorgen um ihren Freund. Die Leute sagten ihr, Kay sei tot, er soll im Fluss ertrunken sein, sein Schlitten wurde dort gefunden. Da ging Gerda zum Fluss und stieg in ein Boot am Ufer, um ihren Kay zu suchen. Schnell fuhr sie den Fluss entlang.

Das sahen die beiden Jungtrolle, die Kay in den Schlitten der Schneekönigin gelockt hatten, und liefen dem Mädchen eilig am Ufer entlang hinterher, denn die Schneekönigin hatte ihnen aufgetragen, dass Gerda ihren Freund niemals finden darf.

Da erreichte Gerda einen wunderschönen Garten, stieg aus ihrem Boot und ging hinein. Die beiden Trolle verwandelten sich in Holzsoldaten und bewachten grimmig den Eingang. Da kam eine alte Frau hinaus, sie stützte sich auf einen Krückstock und sie trug einen großen Strohhut, und der war mit den herrlichsten Blumen geschmückt. Freundlich begrüßte sie die kleine Gerda und lockte sie in ihren Garten.

Da fragte Gerda nach ihrem besten Freund und erzählte von ihren Lieblingsrosen auf dem Dachgarten daheim; und sie erzählte, wie Kay auf einmal böse wurde, die schönen Rosen zerstörte und nicht mehr mit ihr spielen wollte. Da nahm die alte Frau ihren Krückstock, der zaubern konnte, und so wunderbar sie auch blühten, so sanken alle Rosen hinab in die schwarze Erde und man konnte nicht sehen, wo sie gestanden hatten.

Sie tröstete Gerda, nahm sie auf ihren Schoß, kämmte dem kleinen Mädchen mit einem Zauberkamm die Harre und sang: „Vieles war und vieles wird, vieles hat sich schon verirrt. Manch ein Haar hat sich verklemmt, wurde wieder glatt gekämmt! Was da war wird ausgestrichen, bis es ganz und gar verblichen. Was da sein wird, sehen wir, erstmal bleibst du jetzt bei mir!“

Sie war keine böse Zauberin, sie zauberte nur so ein bisschen zu ihrem eigenen Vergnügen, und nun wollte sie die kleine Gerda behalten. Und als ihr die Blumenfrau die Haare kämmte, vergaß Gerda ihren Kay und dass sie ihn suchen wollte. Sie ging in den Blumengarten hinaus und das kleine Mädchen erfreute sich an den bunten Farben und dem herrlichen Duft der Blumen.

Da hörte sie die leuchtenden gelben Mimosen singen:

Fass uns nicht an!

Tief in uns drinnen

schläft eine Prinzessin.

Ihr Schlaf missglückt.

Die Erbse drückt.

Nun ist der Prinz vergessen,

zur Gattin sie zu küren!

Ach, wie gut, so zart zu spüren!

Das fand Gerda lustig und fragte die kräftigen Holundersträuche: „Habt ihr auch so etwas zu erzählen?“

Und da begann auch der Holunder zu singen:

In einem fernen Land, in China,

da sang ein Vogel überirdisch schön.

Der Kaiser ließ ihn kommen

und lauschte seinen Liedern,

ein Künstler ließ aus Rädern einen

ähnlichen entsteh´n.

Der sang immer das gleiche Stück,

der König mocht´ ihn lieber.

Doch als er einsam im Sterben lag,

da sang die Nachtigall im Hag den Herrscher

ins Leben zurück.

Und dann ging Gerda zu den Schneeglöckchen und fragte nach ihrer Geschichte, diese sangen:

In eisig kalter Winternacht,

da ward ein Schwefelholz entfacht.

Ein Mädchen wollt´ sich so erwarmen,

das war so
arm, so zum Erbarmen.

Ihm wurd´ nicht warm, es blieb ihm kalt,

und Holz um Holz verging ihm bald.
Doch in des letzten Hölzchens Glanz

erscheint in goldner Strahlenkranz,

Großmutter, die das Kind geliebt,
voll Liebe sie den Arm ihm gibt.

Sie führt es fort aus aller Not,

das Mädchen küsst ihm Schnee der Tod.

Als Gerda das hörte, da wurde sie ganz furchtbar traurig. Sie erinnerte sich an ihre Großmutter und begann herzzerreisend zu weinen; und als ihre Tränen die Erde wässerten, schoss auf einmal ein Rosenstock aus dem Boden hervor; und als sie die Rosen singen hörte, da erinnerte sie sich wieder an ihren Freund Kay.

Schnell lief sie zum Gartentor und wollte hinaus, doch dort standen noch immer die beiden Trolle, wie Holzsoldaten sahen sie aus, und versperrten ihr den Weg. Da rief Gerda: „Ihr könnt mir nichts tun! Ihr seid doch nur aus hohlem Holz!“ und lief an ihnen vorbei und so schnell sie konnte hinaus in die Welt.

Inzwischen war es Herbst geworden. Das hatte sie in dem Zaubergarten gar nicht bemerkt.

4. Geschichte: Prinz und Prinzessin

Grau und kalt war die Welt, und Gerda musste sich ausruhen, denn ihre Füße schmerzten. Da setzte sich eine Krähe zu ihr und Gerda fragte, ob sie ihren Freund Kay gesehen hätte. Da antwortete die Krähe aufgeregt:

„Ja, ja! Ja, ja! Ja, ja, ja, ja! Der ist bei der Prinzessin.“

„Bei welcher Prinzessin?“, fragte Gerda verwirrt. Und da erzählte ihr die neunmalkluge Krähe, wie sich die kritische Prinzessin einen Mann wünschte und wie viele tausend Männer zu ihr kamen. Doch keiner war gut genug, bis sich ihr jemand vorstellte, der sehr gut multiplizieren und konservieren konnte, außerdem war er witzig und sogar vegan. Und diesen nahm die Prinzessin zu ihrem Mann. Als Gerda das hörte, wollte sie am liebsten sofort loslaufen, das klang ganz nach ihrem Kay. Doch die Krähe sah, wie müde das kleine Mädchen war und riet ihr, sich erst einmal auszuruhen und am nächsten Morgen nach Kay zu suchen. Und da merkte auch Gerda, wie müde sie war, legte sich hin und schlief tief und fest ein.

Im Traum sah sie den schneeweißen und glitzernden Palast der Schneekönigin. Alles war leer und eisig beleuchtet vom glänzenden Nordlicht. Hier saß Kay, er war blau vor Kälte, aber er merkte es nicht, denn die Schneekönigin hatte ihm den Kälteschauder weggeküsst.

Und die Schneekönigin stand vor ihm und gab ihm ein Rätsel:

„Hier stehen wir im Spiegel des Verstandes. Seine Scherben aus Eis bilden Zeichen von tiefster Bedeutung. Doch eine Form, ein bestimmtes Wort, das größte und wichtigste von allen überhaupt, das will sich nicht legen lassen. Kay, mein Kay, du siehst schärfer als andere. Dein Blick ist klar wie ein Kristall aus Schnee. Dein Verstand so kühl wie dein Herz. Vermagst du nun damit das Wort mir zu legen? Dann sollst du dein eigener Herr sein, und ich schenk´ dir die ganze Welt, mein Kay. Und ein Paar neuer Schlittschuhe gleich mit dazu!“ Da sah Gerda, wie die Schneekönigin immer näher an ihren Kay heran kam, sie flüsterte ihm etwas ins Ohr; und plötzlich erwachte Gerda aus ihrem Albtraum.

Gemeinsam mit der Krähe eilte sie ins Schloss der Prinzessin. Über eine geheime Hintertreppe gelangten sie in das Schlafgemach des Prinzenpaares. Mittendrin stand ein großes gelbes Bett, das mit vielen Kissen bedeckt war. Auf der einen Seite des Bettes lag die Prinzessin und auf der anderen Seite, da sah die kleine Gerda einen blonden Kopf auf dem großen Kissen liegen. „Kay!“, rief sie laut.

Aber es war nicht Kay, sondern ein junger Prinz und da weinte sie bitterlich und erzählte der Prinzessin und dem Prinzen ihre traurige Geschichte. Gerda erzählte ihnen von ihrem Traum; davon dass Kay bei der Schneekönigin ist. Da hatten der Prinz und die Prinzessin Mitleid mit dem kleinen Mädchen und sie schenkten ihr eine goldene Kutsche und Pferde und zwei Kutscher, die die Kutsche fahren konnten und sie bekam wunderschöne neue Kleider und einen warmen weichen Muff, denn es war kalt im Norden. Der Prinz und die Prinzessin wünschten Gerda viel Glück und schon sauste das kleine Mädchen auf der Kutsche davon.

5. Geschichte: Das kleine Räubermädchen

Mit voller Fahrt ratterte die goldene Kutsche über einen steinigen Weg. Gerda blickte aus dem Fenster, die Krähe hatte von kahlen Bergen gesprochen, an denen sie auf dem Weg nach Norden vorbei fahren müssen, doch Gerda sah nur dunkle Tannen und einen dichten unheimlichen Wald. Da hörte sie ihre beiden Kutscher wild lachen; es waren keine normalen Kutscher, es waren die beiden Jungtrolle, die der kleinen Gerda in das Schloss des Prinzenpaares gefolgt waren. Sie hatten sich als Kutscher verkleidet und entführten nun Gerdas Kutsche; denn die Schneekönigin hatte ihnen befohlen, dass Gerda ihren Kay niemals finden darf.

Als Gerda aus der Kutsche blickte, erkannte sie die beiden: „Ich kenn´ euch doch! Ihr wart bei der Blumenfrau… und auch damals bei Kay! Anhalten!“, rief sie, „Sofort!“ Gerda bekam fürchterliche Angst, doch die beiden Jungtrolle hörten nicht auf sie und fuhren immer schneller durch den Wald. Sie lachten und lachten und lachten und ganz plötzlich riefen sie: „Haaalt!“ Da ruckelte die Kutsche so sehr, dass Gerda beinahe hinaus gefallen wäre, und blieb endlich stehen, denn ein Baum versperrte ihnen den Weg.

Peng! Peng! Plötzlich ertönten zwei laute Schüsse und als die beiden Trolle das hörten, sprangen sie panisch von der Kutsche und versteckten sich im Wald. Ein kleines Räubermädchen hatte die goldene Kutsche entdeckt und zweimal ihrer Pistole in die Luft geschossen. Lachend nährte sie sich der goldenden Kutsche, sie betrachtete neugierig ihre Beute und als sie in das Innere der Kutsche hineinsah, entdeckte sie die kleine Gerda: „Ei, ei, da ist ja wer drin! Komm´ mal da raus, Prinzesschen, oder mein Messerchen kommt gleich zu dir!“ Sie zog ein langes Messer aus ihrem Gürtel und hielt es Gerda vors Gesicht.

Vorsichtig trat Gerda aus der Kutsche heraus: „Ich bin keine Prinzessin, ich bin Gerda! Und ich habe keine Zeit, und muss jetzt weiter.“ Doch das wollte das Räubermädchen nicht hören. Sie raubte der kleinen Gerda ihren warmen Muff, hob das Mädchen auf die Kutsche, setzte sich dazu und sauste mit Gerda und der goldenen Kutsche in ihre Räuberhöhle. Und als sie durch den dunklen Wald fuhren, musste ihr Gerda von Kay erzählen.

Als sie in der dunklen Räuberhöhle ankamen, führte sie die kleine Gerda in eine Ecke, wo Stroh und Teppiche lagen. Darüber saßen auf Latten und Stäben mehr als hundert Tauben. Sie waren in Käfigen eingeschlossen und an einem Pfahl war ein Rentier gebunden. Die Tiere gehörten alle dem kleinen Räubermädchen, sie waren festgebunden, damit sie ihr nicht davon liefen.

Die kleine Gerda sollte auch bei dem Räubermädchen bleiben und in ihrem Bett schlafen, ängstlich fragte sie das Räubermädchen: „Muss den das Messer mit ins Bett?“

„Mein Messer bleibt immer bei mir! Man weiß nie was kommt! Hätt´ dein Kay in der Not ein Messer gehabt, hätt´ er sich schnell vom Schlitten geschnitten! Oder noch besser: den Kutscher erdolcht! Jetzt Augen zu.“ Das Räubermädchen legte ihren Arm um Gerdas Hals, hielt das Messer in der anderen Hand und schlief, dass man es hören konnte; aber Gerda bekam überhaupt kein Auge zu, sie wusste nicht, ob sie leben oder sterben sollte.

Da sagten die Waldtauben: „Gurre, gurre! Gerda! Gerda! Wir haben Kay gesehen! Die Schneekönigin sprach ihn mit Namen an, sie schienen sich gut zu versteh´ n. Sie flogen im Schlitten am Nest uns vorbei, die Kälte ließ fast uns vergeh´ n!“

Das freute Gerda und sie fragte neugierig: Wisst ihr wohin sie mit Kay geflogen ist?“

Da antworte das Rentier: „Was fragst du die Tauben? Frage mich! Nach Lappland ist sie gereist, denn da ist´s schön. Da ist immer blankes Eis und weißer Schnee.“
„Ist jetzt bald

„Ist jetzt bald Ruhe“, schimpfte das Räubermädchen, „wer jetzt nicht sofort schläft, der schläft gleich für immer!“

Da richtete sich Gerda plötzlich auf und riss dem Räubermädchen das Messer aus der Hand. „Ich muss weiter! Die Tauben haben Kay gesehen, er saß im Schlitten der Schneekönigin, dein Rentier sagt, sie sind nach Lappland gereist!"

Ich muss weiter!“, erklärte sie dem Räubermädchen, das nun ganz unruhig da stand, da Gerda ihr das Messer gestohlen hatte. Dann legte Gerda das Messer zurück auf die Erde. Zögernd blickte das Räubermädchen erst auf das Messer und dann zu Gerda. Mit einem schnellen Griff schnappte sie sich das Messer, richtete es kurz auf Gerda und steckte es sich dann in die Tasche.

Dann ging sie zu ihrem Rentier und sagte: „Weißt du, ich hätte Lust, dich noch oft mit dem Messer zu kitzeln, denn da wirst du immer so heiter! Aber das ist jetzt gleich. Bring Gerda sofort nach Lappland zur Schneekönigin und zu Kay, ihrem Freund!“ Das Rentier machte einen Luftsprung vor Freude und das Räubermädchen hob Gerda
auf seinen Rücken. Es gab ihr ihren Mantel zurück und etwas zu essen.

„Aber der Muff bleibt hier! Wenn du mal wieder vorbei kommst mit neuen und guten Geschichten im Sack, kriegst du ihn wieder. Ich schwör´s! Bei meiner Räuberehre! Nun aber, lauf! Lauf nach Lappland! Und pass mir gut auf Gerda auf!“, sagte das Räubermädchen zum Abschied und schon ritt das Rentier davon über Busch und Strauch, durch den großen Wald, über Moore und Steppen, so rasch es konnte. Es wurde Nacht und Tag, die Brote wurden aufgegessen und dann waren sie in Lappland.

6. Geschichte: Die finnische Lappin

Sie hielten an einem kleinen Haus; das war so klein; das Dach ging bis zur Erde, und die Tür war so niedrig, dass die ganze Familie auf dem Bauch kriechen musste, wenn sie heraus- oder hineinwollten. Darin saß eine alte Frau, die sich gerade in ihrer Sauna wärmte. Es war eine solche Hitze, dass die Frau selbst fast nackt herumlief; klein war sie und ganz verdreckt. Sie nahm der kleinen Gerda die Kleider ab, weil ihr sonst zu heiß geworden wäre, legte dem Rentier ein Stück Eis auf den Kopf und gab ihnen zu essen. Nun erzählten das Rentier und die kleine Gerda ihre Geschichte, die kluge Alte hörte ihnen aufmerksam zu, sagte aber nichts.

„Du bist so klug. Du weißt so viel. Du hast die Macht, Gerda so stark wie zwölf Mann zu machen. Dann wird die Schneekönigin sicher weichen!“, bat das Rentier die alte Lappin.

Da begann die Alte zu sprechen: „Da war ein böser Troll, der Deubeltroll, der schuf einen bösen Spiegel, den fand er ganz toll! Er meinte, der zeige die Welt, so wie sie ist! In Wirklichkeit zeigte der Spiegel nur Mist. Zwei Trolle, die flogen mit ihm um die Welt und dann hoch in den Himmel. Der Spiegel erzittert', sie ließen ihn fallen, und der Spiegel zerschellt' in tausend mal tausend und noch einmal tausende Splitter von spiegelnden Scherben! Die schaffen den Menschen bis heute Verderben. Den Kay traf' s doppelt und dreifach schlimm. Ein Splitter des Spiegels sitzet ihm im langsam und leise ersterbenden Herzen, er spürt weder Kälte, noch Hunger, noch Schmerzen. Auch sitzt ihm im Auge vom Spiegel ein Stück, drum übt er sich fleißig in Spott und Kritik. Die Küsse jedoch der Schneekönigin, die sind's, die das Leben aus ihm zieh' n. Fast ist schon ein jedes Gefühl in ihm tot, sein Herz ist vereist ...sein Ende nun droht!“

Als sie das hörten wurden Gerda und das Rentier fürchterlich traurig; die Alte musste doch etwas haben, das der kleinen Gerda auf ihrer Suche nach Kay helfen konnte. „Ich kann ihr nicht größere Macht geben, als sie sich selber gab durch ihr liebendes Leben.“, entgegnete die alte Lappin. Nur Gerda allein musste den Weg zur Schneekönigin finden und nur sie hatte die Macht, die tief in ihrem Herzen steckte, um ihren Freund Kay von den Glassplittern zu befreien.

So machte sie sich allein auf den Weg, so schnell sie konnte und da kam ihr ein ganzes Regiment von Schneeflocken entgegen, das waren die Vorposten der Schneekönigin. Sie wurden immer größer und fürchterlicher und sie hatten die wunderlichsten Gestalten; manche sahen aus wie ekelhafte große Igel, andere wie ineinander verknäuelte Schlangen, die ihre Köpfe hervorstreckten, und andere wie kleine dicke Bären mit gesträubten Haaren, alle leuchteten weiß, alle waren sie lebendige Schneeflocken. Da sang die kleine Gerda ein Lied:

Tanzt nur! Tanzt nur!

Ihr könnt mir nichts tun!

Ihr seid nur aus Schnee, und jeder

Schnee
muss irgendwann schmelzen und vergeh´ n!

Heult nur, heult nur, ich fürchte euch nicht!

Bald schon bricht an das Morgenlicht.

Dann ist es Tag und dann hat es sich ausgetanzt!

Die Sonne, die Sonne, die Sonne geht auf!

Und da brach ein heller Sonnenstrahl durch die dichten Schneewolken und nach und nach hörten die Flocken auf zu tanzen und Gerda eilte rasch zum Schloss der Königin.

7. Geschichte: Im Schloss der Schneekönigin

Die Wände des Schlosses waren aus stiebendem Schnee und die Fenster und Türen aus den schneidenden Winden; da waren über hundert Säle, der Größte war mehrere Meilen lang, alle beleuchtet von starkem Nordlicht. Sie waren so riesig, so leer, so eisig kalt und so glänzend. Durch das gigantische Eingangstor des Palastes betrat die kleine Gerda den Palast und ging an zwei Schneesäulen vorbei, die, sobald Gerda an ihnen vorbei gegangen war, plötzlich lebendig wurden. Es waren die beiden Jungtrolle, Trotteltroll und Tölpeltroll, die der kleinen Gerda eilig in den Palast folgten.

Mitten in dem leeren unendlichen Schneesaal gab es einen gefrorenen See; der war in tausend Stücke zersplittert, aber jedes Stück glich so akkurat dem anderen, dass es ein vollkommenes Kunststück war, und mitten darauf saß die Schneekönigin, wenn sie zu Hause war, und dann sagte sie, dass sie im Spiegel des Verstandes sitze und dass dies das einzige und das beste in dieser Welt sei.

Der kleine Kay war ganz blau vor Kälte, ja fast schwarz, aber er spürte es doch nicht, denn sie hatte ihm ja den Kälteschauder weggeküsst, und sein Herz war so gut wie ein Eisklumpen. Er hatte einige Eisstücke zusammengetragen und versuchte, diese zu Figuren zusammenzulegen.

Er betrachtete die Eisstücke und dachte und dachte: „Jedes Ding hat seine Frist. Wie kann da was sein, das immer ist? Alles lässt sich gut begründen. Wie kann man da etwas ganz ohne Grund finden?“

Kay legte aus den Eisstücken die wunderbarsten Formen, aber niemals wollte ihm das Wort gelingen, auf das es ihm gerade ankam, das Wort: Ewigkeit, und die Schneekönigin hatte ihm gesagt: „Wenn du mir diese Figur herausbekommst, dann sollst du dein eigener Herr sein, und ich schenke dir die ganze Welt und ein Paar neuer Schlittschuhe!“ Aber er konnte es nicht. Ganz steif saß er da, man hätte glauben können, er sei erfroren.

Da geschah es, dass die keine Gerda ins Schloss eintrat und ihren Kay erblickte. Sie fiel ihm um den Hals und rief: „Kay! Kay, du lebst! Ach Kay, was ist mit dir nur geschehen?“ Er aber saß ganz still und kalt da – da weinte die kleine Gerda und sang ihr Lied von den Rosen:

In einem fernen Garten
gar selt´ne Rosen auf uns warten.
Tief in ihren Blühten,
sie scheu ein Geheimnis für dich hüten.
Kannst´ s nicht sehn, kannst´ s nicht hörn,
kannst es nur im Herzen spür´ n.
Willst du´s fassen, musst du´s lassen
doch lässt du´s ein ins Herze dein
wird es dich durchs Leben führ´ n.
Kay kannst du nicht unsre Rosen sehn?
Darf ihr Geheimnis uns nicht gescheh´ n?

Als Gerda sang taute das Eis in seinem Herzen und das Spiegelstück, das sich darin festgesetzt hatte löste sich. Da brach auch der kleine Kay in Tränen aus; er weinte, dass das Spiegelkörnchen aus seinem Auge kullerte und er seine Freundin Gerda erkannte. Und als Kay wieder ganz der liebe Freund war, den Gerda verloren hatte, wollte sie ihn schnell mit nach Hause nehmen.

Da bekam Kay schreckliche Angst und sagte: „Aber Gerda, ich kann nicht. Ich darf nicht! Die Schneekönigin hat mir aufgetragen ein Wort zu legen. Das wichtigste Wort von allen! Ein Wort, das alles umfasst. Das selbst die schwierigsten Rätsel löst. Erst wenn ich das Wort „Ewigkeit“ legen kann, lässt mich die Schneekönigin wieder frei.“

Da lachte Gerda: „Ewigkeit? Aber das ist doch kinderleicht. Komm, ich helf' dir.“ Gemeinsam legten sie das Wort aus den Eisscherben der Schneekönigin und als sie die Scherben in die richtige Form gebracht hatten, hörten sie die Schneekönigin kommen und da fassten sie einander bei den Händen und liefen so schnell sie konnten aus dem Schloss heraus.

Da betrat die Schneekönigin rauschend den Saal. Sie entdeckte die Formen aus Eissplittern, entzückt las sie das Wort „Ewigkeit“. Doch bevor sie es in Ruhe betrachten konnte, stürmten Trotteltroll und Trölpeltroll hinein, um ihr von Gerdas Eintreten in den Palast zu berichten. Dass sie bereits viel zu spät waren, bemerkten sie nicht und stolperten mit voller Wucht über die Eisscherben, die das Wort „Ewigkeit“ formten und noch bevor sie das Wort lesen konnten, denn sie waren schon lange nicht mehr in der Trollschule gewesen, waren alle Eisstücke wieder durcheinander geraten und das Wort war zerstört.

Die Schneekönigin erstarrte vor Wut. Verzweifelt wollte sie es erneut legen, doch es konnte ihr nicht gelingen. Kay und Gerda aber wanderten aus dem Schloss und wohin sie auch gingen, ruhten die Winde und die Sonne brach hervor. Sie gingen Hand in Hand und freuten sich, denn es war Sommer, warmer gesegneter Sommer!