Der Orpheus in uns
Die Zeit zurückdrehen
Im Laufe der Jahrhunderte hat der Orpheus-Mythos viele Künstler*innen, Schriftsteller*innen, Musiker*innen, Maler*innen, Dichter*innen und Komponist*innen inspiriert, die alle ihre eigene Interpretation dieses Halbgottes geprägt haben. Orpheus ist ein Musiker, Sänger und Dichter. Er verwandelt seine Depressionen, Ängste und Trauer in Musik, in Kunst. Er ist die Personifizierung der Kraft der Musik und der Archetyp eines leidenschaftlichen Künstlers, der das Geheimnis von Leben und Tod offenbart. In der Geschichte des Orpheus geht es um die Flüchtigkeit der menschlichen Natur und die Unendlichkeit der Kunst.
Orpheus ist ein Halbgott, der Schwierigkeiten hat, mit menschlichen Emotionen umzugehen. Er ist ein erfahrener Nörgler und lebt immer in der Vergangenheit; selbst an seinem Hochzeitstag erinnert er sich an die Zeit, als er unglücklich war. Orpheus kann die Vergangenheit nicht loslassen, und das hält ihn davon ab, irgendein Glück zu erleben, das dort vielleicht vorhanden ist. Er braucht seine Vergangenheit, um Gedichte zu schreiben und Musik zu machen, um zu gestalten.
Blick nicht zurück
Die Regisseurin Monique Wagemakers erklärt: „In dieser Geschichte geht es um jeden einzelnen von uns, wir alle haben etwas von Orpheus in uns. Wenn etwas Schlimmes passiert, wollen wir die Uhr zurückdrehen: „Hätte ich nur, ... ich hätte doch...‟. Als für ihn der Moment kommt, mit Eurydike die Unterwelt zu verlassen, um eine neue Zukunft zu beginnen, muss er seine geliebte Vergangenheit loslassen, aber er kann es nicht. Also tut er, was er immer getan hat: er blickt zurück.‟
Orpheus bleibt untrennbar mit der Vergangenheit verbunden, mit den Dingen, die einmal waren. Am Ende bleibt er mit seinem eigenen Echo zurück, aber auch das bietet keinen Trost mehr. Apollon greift ein und fragt am Ende der Oper seinen Sohn: „Warum verharrst du in Ressentiments und Trauer? Weißt du nicht, dass das irdische Glück nicht ewig währt?‟
Ein zeitgenössisches Gesamtkunstwerk
Die Regisseurin Monique Wagemakers entwickelte zusammen mit der Choreografin Nanine Linning und der Künstlerin Lonneke Gordijn (Studio DRIFT) das Konzept für diese Oper als zeitgenössisches Gesamtkunstwerk, das Regie, Choreografie und Design vollständig integriert. Die Modedesignerin Marlou Breuls wurde hinzugezogen, um eng anliegende, hautfarbene Kostüme aus Gaze zu entwerfen. Von Anfang an war es die Absicht von Wagemakers, einen neuen Weg für die Oper zu finden. Deshalb suchte sie bewusst die Zusammenarbeit mit freischaffenden Künstler*innen.
Über die Zusammenarbeit mit Lonneke Gordijn sagt Monique Wagemakers: „Lonneke hat eine Faszination für die Natur; mit ihren Installationen operiert sie an der Grenze zwischen Leben und Tod, zwischen Tag und Nacht, zwischen Erstarrung und Bewegung - genau das, was Orpheus ausmacht.‟ Die Choreografin Nanine Linning bezieht ihre sehr persönliche und körperliche Tanzsprache in dieses Konzept mit ein. Die zehn Tänzer*innen ihrer Tanzkompanie sind Teil der Besetzung. Da Sänger*innen und Tänzer*innen in dieser Produktion eine einzige Gruppe bilden und immer auf der Bühne stehen, war Linning auch an der Besetzung der Sänger*innen beteiligt.
Die Installation: Ego
Für diese Produktion entwickelte die Künstlerin Lonneke Gordijn (Studio DRIFT) die überwältigende Installation Ego, eine handgewebte mobile Skulptur aus Nylonfaden von 9 x 4,5 x 4,5 Metern, die fast die gesamte Bühne ausfüllt. Ego stellt die Perspektive des Menschen dar und zeigt, wie Hoffnung, Wahrheit und Emotionen ein direktes Ergebnis entweder der Starrheit oder der Dynamik unserer Gedanken sind..
Gemeinsam mit den Interaktionen von Sänger*innen und Tänzer*innen führt uns die Skulptur in die innere Welt des Orpheus. Er steckt in seinen eigenen unflexiblen Ansichten über Liebe und Leben fest. Erst wenn seine Welt völlig zusammenbricht - nachdem er Eurydike verloren hat - geht er über sich selbst hinaus. Er muss sich den Naturgesetzen stellen, und dieses neue Ziel in seinem Leben verändert seine Perspektive völlig und macht ihn plötzlich zu einer starken Figur.
Ego wird von Motoren, Algorithmen und speziell entwickelter Software gesteuert. Während der Aufführungen wird Ego auch manuell dirigiert, damit es auf das Tempo der Musik reagieren kann. Die Bewegungen der Skulptur stellen die Emotionen, Ängste und Stärke des Orpheus dar. Ego ist daher in dieser Inszenierung nicht nur Bühnenbild, sondern auch Solist.
Eine homogene Gruppe auf der Bühne
Die Regisseurin Monique Wagemakers und die Choreografin Nanine Linning entschieden sich dafür, die zehn Sänger*innen und zehn Tänzer*innen als homogene Gruppe und zusammen mit der Installation Ego als einen einzigen Organismus auf der Bühne zu präsentieren. Jeder in dieser Oper ist Teil der inneren Welt des Orpheus. Das Ich ist sein Universum.
Die anderen Figuren als solche sind nicht immer als eigenständige Rollen erkennbar. Alle Sänger*innen und Tänzer*innen bleiben während der gesamten Aufführung auf der Bühne. Während des Produktionsprozesses wurde immer in einem einzigen Studio geprobt. Auf diese Weise fließen die theatralische Regie und die Choreographie organisch ineinander.
Linning meint: „Die Tanzsprache dieser Oper ist eloquent, ohne anekdotisch zu sein. Als Künstlerin und Choreografin fordert mich diese Oper heraus, einen theatralischen Tanz zu schaffen, der die poetischen Texte und die fantastische atmosphärische Musik integriert. Die Körper der Sänger*innen und Tänzer*innen erzählen mit und ohne Worte von der Suche des Orpheus nach dem Glück‟. Die Tänzer*innen der Produktion sind Teil der in Deutschland ansässigen Tanzkompanie von Nanine Linning.
Ein 400 Jahre altes zeitgenössisches Werk
Der Dirigent Hernán Schvartzman sieht Orfeo als zeitlose Oper: „Es ist wunderbar zu sehen, wie eine 400 Jahre alte Oper in jeder Epoche immer noch ein zeitgenössisches Werk sein kann. Dass wir eine aktuelle Version mit ihren gewagten künstlerischen Entscheidungen machen, entspricht voll und ganz der Intention von Claudio Monteverdi. Als er 1607 das Werk seiner Vorgänger der Camerata Fiorentina weiter ausbaute, schuf er sogar eine völlig neue Kunstform: die Oper‟.
„Im Allgemeinen waren die Komponisten der Zeit Monteverdis bei der Notation von Instrumentalpartituren nicht immer so genau. Im Gegensatz dazu geht Monteverdi in dieser Oper sehr ins Detail, mit einer reichen Farbpalette und starken symbolischen Konnotationen: Flöten für den Hirten, Orgel und Harfe, die die Lyra des Orpheus symbolisieren, und Posaunen und Regale für die Unterwelt. Ich freue mich sehr über die Zusammenarbeit mit dem Barockensemble La Sfera Armoniosa; sie sind auf die Musik des 17. Jahrhunderts spezialisiert, und ihre Musiker*innen haben mit den besten Ensembles der Welt gespielt.‟