Ein kleines Stück dörflichen Lebens…
Regisseur Barrie Kosky im Interview
Was unterscheidet Mussorgski von all den anderen russischen Komponisten?
BARRIE KOSKY Er kommt zwar aus der russischen Tradition, ergründet seine Themen aber in seiner Musik so radikal, dass er eine vollkommene Außenseiterposition einnimmt. Ich denke, die Komponisten seiner Zeit, die Borodins und Glasunows und Rimski-Korsakows, ahnten, dass er ein sehr besonderer Komponist war. Aber sie konnten es sich selbst nicht eingestehen. Sie dachten, Mussorgski könne einfach nicht richtig instrumentieren. Deshalb haben sich seine Freunde daran gemacht, ihm „zu helfen“. In Wahrheit jedoch war Mussorgski ein Genie und wusste ganz genau, was er tat. Das konnten aber offenbar erst spätere Generationen erkennen. Mussorgskis Oeuvre hatte großen Einfluss auf Komponisten wie Strawinsky oder Schostakowitsch. Es ist bedauerlicherweise sehr klein, und vieles davon hat er obendrein unvollendet hinterlassen. Er war ein komplizierter, manisch-depressiver Alkoholiker, seine Musik ist voll von einer unglaublich misanthropischen Trostlosigkeit.
Der Jahrmarkt von Sorotschinzi ist aber nicht unbedingt trostlos ...
BARRIE KOSKY Ja und Nein. Nach Boris Godunow und parallel zu Chowanschtschina wollte Mussorgski ganz bewusst eine komische Oper schreiben, als eine Art Ausweg aus dieser Trostlosigkeit. So ein wenig nach dem Motto „Ich schreibe mich jetzt einfach mal in eine gute Stimmung!“ Vielleicht ging es dabei auch ein bisschen um Kindheitserinnerungen. Mussorgski ist ja auf dem Land geboren und aufgewachsen. Vielleicht war die Arbeit am Jahrmarkt auch der Versuch, sich in seine glücklichere Kindheit zurückzuversetzen, weg von der Metropole Petersburg. Aber trotzdem ist da auch im Jahrmarkt eine unglaublich düstere Seite. Das kommt von Gogol und dessen seltsamer Mischung aus Komik und Misanthropie. Ein paar Jahre zuvor hatte Mussorgski sich an Gogols Die Heirat versucht, aber das ist ein ganz anderer Gogol. Der Gogol der Abende auf dem Weiler bei Dikanka – Der Jahrmarkt von Sorotschinzi ist die erste von acht unter diesem Titel veröffentlichten Erzählungen – ist der Gogol des Aberglaubens, der Folklore, absonderlich und grotesk. Eine perfekte Mischung!
Ist diese Trostlosigkeit problematisch für Sie als Regisseur?
BARRIE KOSKY Nein, im Gegenteil! Das hat etwas ungemein Faszinierendes, weil es sich um eine ganz besondere Art der Grenzüberschreitung handelt. Es ist, als sei der Kampf längst verloren gegeben, als hätten die inneren Dämonen gewonnen. Mussorgskis Musik scheint in einem Zwischenland angesiedelt zwischen Realität und Nicht-Realität. Und in diesem Zwischenland fühlt er sich wohl. Nicht „wohl“ im Sinne von glücklich, aber er hat den Kampf hinter sich. Es ist, als hätte die Apokalypse bereits stattgefunden, und wir blicken auf eine tote Landschaft nach der Katastrophe. Deshalb kommt mir die Musik oft vor wie eine Prozession, eine Prozession von toten Seelen.
Wovon handelt Der Jahrmarkt von Sorotschinzi?
BARRIE KOSKY Ein Dorf wird in Angst versetzt durch den Aberglauben an einen Teufel, der einst seinen roten Kittel an einen Juden versetzt hat, um die Rechnung in der Kneipe zu bezahlen. Und nun sucht der Teufel jedes Jahr zur selben Zeit das Dorf heim, um seine Jacke einzufordern. In eben jener Nacht begegnen wir einer Familie, die sehr unzufrieden mit ihrem Leben ist. – Das ist alles! Es ist ein kleines Stück volkstümlichen Lebens in der Ukraine. Mir gefällt die Schlichtheit der Geschichte. Es ist das Gegenteil dessen, was wir meist auf der Bühne erleben. Die Handlung ist einfach und simpel, es passiert fast gar nichts. Aber wie so oft in slawischen Werken ist das ganze Leben darin enthalten: Religion, Aberglaube, Liebe, Sex, Familie, Essen, Trinken, Ignoranz und Massenhysterie ... Der Mikrokosmos des Dorfes als Spiegel des gesamten menschlichen Lebens!
Wie geht man mit einem so unvollendeten Werk wie Der Jahrmarkt von Sorotschinzi um?
BARRIE KOSKY Eigentlich hätte es ja nur noch einer halben Stunde mehr Musik bedurft und die zweistündige Oper wäre komplett gewesen. Aber das Fehlen gewisser Teile ist meiner Ansicht nach auch nicht so gravierend wie bei anderen Werken, weil Mussorgski hier – anders als bei Boris Godunow oder Chowanschtschina – keine psychologisch komplexe Handlung vertont hat. Das ist Puppentheater. Kleine Einblicke ins Leben, wie in einem Fotoalbum: Hier ist das Liebespaar. Und hier sind der Vater und die Stiefmutter. Und da! Da ist das Liebespaar nochmal. Hier sehen wir die frustrierte Ehefrau mit ihrem jungen Liebhaber. Oh, sie wird beinahe erwischt. Wo kommt jetzt das Schwein da im Hintergrund her? … kurze, kleine Schnappschüsse, als blättere man in einem seltsamen Fotoalbum. Aber es hätte sicher nicht geschadet, wenn Mussorgski die fehlenden 30 Minuten noch komponiert hätte. Das Fragmentarische ist kein Bestandteil des Werkes selbst. Ausgehend von der Vervollständigung durch Wissarion Schebalin haben wir versucht, den Abend so rund und interessant wie möglich zu gestalten, und deshalb auch zusätzliche Musik eingefügt: drei für Chor arrangierte Lieder und ein von Grizko gesungenes Lied.
Die Geschichte endet dann lapidar: Nach dem Albtraum kommen alle wieder zusammen. Das Liebespaar darf heiraten, die Mutter stürmt davon, die Dorfbewohner lachen sie aus, alle singen ein Lied und die Oper ist zu Ende. Es war einmal ein kleines Dorf am Ende der Straße ...“ Wie bereits gesagt: Es ist nichts als ein kleines Stückchen dörflichen Lebens, das hier gezeigt wird. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.