Im Angesicht der Wirklichkeit
Regisseur Damiano Michieletto über freie Entscheidungen, Märchen und die Gegenwart der Liebe
Sie debütieren mit Cendrillon an der Komischen Oper Berlin und inszenieren erstmals ein Werk von Jules Massenet – ein besonderer Moment für Sie?
Zu Beginn war mir noch nicht klar, wie man mit der Geschichte und der Musik umgehen sollte, aber mit der Zeit habe ich großes Potential in der Handlung entdeckt und in der Weise, wie diese im Werk präsent ist. Die Arbeit bis zur Premiere bestand vor allen Dingen darin, sich zu fragen, wie man den Charakteren mehr Dimensionen verleihen kann und diese dem Publikum vermittelt. Denn das Publikum braucht Komplexität und die Möglichkeit, die Figuren mit Gefühlen füllen zu können.
Sie inszenieren einen Märchenabend?
Es ist selbstverständlich ein Märchen, und diese sind nicht Teil unserer Realität, sondern unserer Phantasien, Träume und auch unseres Unterbewusstseins. Gleichzeitig versuche ich, die Verankerung in der Realität beizubehalten und dem Kontrast zwischen der schmerzhaften Existenz und dem Traum von mehr Würde einen Grund zu geben. In diesem Kontrast gestaltet sich die Geschichte von Cendrillon. In unserer Inszenierung ist sie eine Tänzerin, die sich verletzt hat und im Krankenhaus liegt. Sie kämpft um einen Ausweg, um die Möglichkeit, wieder glücklich zu sein. Ich habe mich entschlossen, diese Geschichte in einer Ballettschule zu inszenieren, das heißt, es gibt Momente, in denen Chorsolisten, Solisten und Solistinnen sowohl singen als auch tanzen. Wir verwenden auch Motive aus dem klassischen Ballett und arbeiten sie in Massenets Oper ein.
Also sehen wir Menschen und nicht Märchenfiguren?
Es gibt zwar die Fee, aber auch sie nimmt die Figuren nicht mit in eine andere Welt. Sie betritt den Raum viel subtiler, wie ein schwacher Wind, der Hoffnung verheißt. Sie bietet keine Flucht aus der Realität, sondern die Möglichkeit, der Realität entgegenzutreten. Am Ende bist du nicht jemand anderes oder besseres, sondern du kannst dich mit der Wirklichkeit auseinandersetzen – ohne die Angst vor der Situation oder dir selbst. Die Fee und der Chor von Feen sind bei uns menschlich, alte Frauen, die sich kümmern und zu helfen versuchen. Das ist das beste Geschenk, das es für Cendrillon geben kann – Zufriedenheit mit sich selbst und Hoffnung für die Zukunft. Die Fee ist sozusagen die Möglichkeit der Hoffnung. Das Entscheidende für die Erzählung der Geschichte ist, dass sie in unserer Version auch ohne märchenhafte Elemente funktionieren würde. Natürlich gibt es „magische Momente“, aber diese sind nicht notwendig für die Dramaturgie der Erzählung. Würde man das Märchen selbst erzählen, käme man ohne die Fee als Märchenfigur nicht aus – nichts würde funktionieren.
„Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute“ – findet sich für diese klassische Märchenformel ein Platz in Ihrer Inszenierung?
Am Ende finden Cendrillon und der Prinz auch hier zusammen, aber es ist kein typisches Happy End. Cendrillon wird nicht wieder gesund, sondern sie bleibt verletzt – alle ihre Probleme verschwinden nicht auf magische Weise. Aber sie lernt, mit der Realität umzugehen, und der Prinz akzeptiert umgekehrt diese Realität. Durch die Liebe akzeptiert er sie, so wie sie ist. Das ist wahre Liebe in meinem Verständnis. Der Prinz ist bereit, etwas aufzugeben – für die Liebe zu Cendrillon – und wirft die Ballettschuhe weg. Im Wissen, dass Cendrillon nicht mehr tanzen wird, entscheidet er sich für sie, gegen alle anderen, auch gegen den Vater. Dadurch ist er wahrhaft frei in seiner Entscheidung und Lebensweise. Man kann nicht alles haben, aber beide leben in der Gegenwart und für die Zukunft – das ist für mich das wahre Happy End.