Das Eigenleben der Carmen

Martin Mutschler, DramaturgDu hast schon öfter erwähnt, Carmen sei für dich „eine Welt“. Was meinst du damit?

Barbora Horáková, Regisseurin​: Ich meine damit, dass die Figur der Carmen sich nur aus den tiefsten eigenen Emotionen, aus persönlichen Erfahrungen speisen kann. Es gibt kein Schema, nach dem man die Figur verkörpern kann, für eine Sängerin stellt sie eine große Herausforderung dar. Als Regis­seurin kann ich Wege vorgeben, aber erfühlen muss sie die Sängerin.

Martin Mutschler: Fast im Widerspruch dazu wirkt die Figur der Carmen für mich zunächst wie eine schwer zu definierende Leerstelle im Stück, ähnlich wie Mozarts Don Giovanni scheint sie eher ein Prinzip als ein lebendiger Charakter zu sein. Das mag auch mit der Rezeptionsgeschichte der Oper zu tun haben, die aus Carmen einen Vamp, eine femme fatale gemacht hat. Wie füllt man besagte Leerstelle?

Barbora Horáková: Für mich ist Carmen wie eine Welle, deren Form man er­ahnen, deren Kräfteverhältnis man erkennen, deren Beschaffenheit man aber nicht vorher­sehen kann – wie das Wasser wirklich ist, wie salzig, wie gefährlich, ob kalt, ob warm, das muss man gemeinsam herausfinden.

Martin Mutschler: Du spielst auf die Naturgewalt der Figur an ...

Barbora Horáková: In Zeiten von Bizet stand Carmen für etwas, wovor man(n) Angst hatte. Heute machen uns andere Dinge Angst: dass wir nicht mehr wis­sen, was Freiheit ist und wo unsere eigenen Grenzen liegen. Ich muss oft an die zentrale Frage in Dostojewskijs Brüder Karamasow denken: Gibt es überhaupt noch Moral in ei­ner Welt, in der man nicht mehr an Gott glau­ben kann? Wo es keine äußeren Schranken mehr gibt, fällt die Angst weg, die einen vor der Grenzüberschreitung bewahren würde.

Martin Mutschler: Diese Freiheit ist aber kein äußeres Risiko, sondern eine Angst vor dem, was in einem selbst steckt. Wovor hat Carmen Angst?

Barbora Horáková: Mag sein, sie hat Angst, sich zu verlieben, weil sie fürchtet, ihre Liebe in der Bindung zu verlieren. Aber ich glaube, dass das Spek­trum der Figur größer ist, und das hat auch mit unserer Lesart zu tun: Wir überschreiten ja gewisse Vorstellungen, die man landläufig von einer Carmen hat, indem wir nämlich eine junge, lebendige Frau zeigen, die auch mit der Unmöglichkeit des sozialen Aufstiegs kämpft.

Martin Mutschler: Unsere Inszenierung spielt – um Bruce Springsteen zu zitieren – in der „darkness at the edge of town“: Es geht um Grenzen zwischen sozialen Milieus, aber auch um Orte, an denen unsere postindustrielle Zivilisation ausfranst. Das Bühnenbild zeigt Teile eines verlassenen Stadions, das einmal Teil einer megalomanen Repräsentationsarchitektur war, jetzt aber nur noch als Ruine vom Scheitern einer längst vergangenen Zukunft kündet. Durch die „darkness“, in der Dinge geschehen, von denen „downtown“ nur träumt, hat dieser Ort allerdings auch das Potential, nach anderen Gesetzen zu funktionieren als das ausgeleuchtete Zentrum der Gesellschaft. Woher kommt Deine Inspiration zu diesem Milieu?

Barbora Horáková: Ich fand verlassene Stadien immer faszinie­rend: wie ihnen neues Leben eingehaucht wird durch die Menschen, die sich diese Orte einfach aneignen. Andererseits inspirierten mich auch jene Zwischenorte, die man auf Fotos aus Kriegsgebieten manchmal sieht: In Syrien stationierte Soldaten spielen zwi­schen den Ruinen mit den Kindern der Ein­heimischen Fußball. Ein Kind und ein Soldat, die gemeinsam Ball spielen: das verleiht die­sen kahlen, zerstörten Orten plötzlich etwas sehr Warmes. Eine weitere Inspiration war die spanische Sängerin Rosalía. Sie wuchs an der Peripherie von Barcelona in einem Plattenbau unweit einer Seat­- und einer Chupa-Chups­-Fabrik auf. In Interviews beschreibt sie, was es für die Teenager bedeutet hat, die­se Orte nachts in ein großes Schattenspiel zu verwandeln. Spielen, um zu (über)leben – da kommt auch der Tanz ins Spiel. Rosalía ent­deckte mit dem Flamenco eine sehr alte Tra­dition für sich und konnte sie in etwas Neues, Poppiges verwandeln.

Martin Mutschler: Die Popkultur bedient sich dieses Industrie-trashs und verleiht ihm in einem verrückten Akt des sozialen Empowerments ganz eigenen Glanz. Das sieht man auch in den Videos von Rosalía, wo sich Parkplätze und Hafenanlagen plötzlich in Bühnen verwandeln – und nebenbei durch eine neuartige Kombination von Symbolen gängige Bildwelten untergraben werden. Ich sehe da durchaus Parallelen zum lustvollen Kontrast, den es auch in Bizets Carmen schon gibt: Drama, Lust und Spiel werden bereits im Genre der Opéra comique übergangslos nebeneinandergestellt, Unterschiede eben nicht nivelliert. Damit ist Bizet viel näher an der Lebensrealität der Leute, denn was ist Realismus anderes als die schroffe Gleichzeitigkeit unvereinbarer Welten?

Barbora Horáková: Nehmen wir Carmens „Chanson bohémienne“: Hier spürt man eine unglaubliche Leichtig­keit und eine Freiheit, unter der die Gefahr lauert – und beides, Leichtigkeit und Freiheit, sind extrem. Ich glaube, deshalb ist Carmen so beliebt: Die Melodien sind ja nicht so bekannt, weil sie nur schön wären. Auch die „Habanera“ ist ein Lied der Verführung und erzählt gleichzeitig von der Gefährlichkeit der Liebe, an der man sich auch gehörig ver­brennen kann.

Martin Mutschler: Die zusätzlichen Tänzer*innen haben uns die Möglichkeit gegeben, den fehlenden Chor auf der Bühne durch ein kleineres Kollektiv zu ersetzen. Diese treten nun selbst chorisch auf, als Corps de ballet – und liefern dem Publikum eine regelrechte Show.

Barbora Horáková: Mir war wichtig, dass unsere Bearbeitung kein Kaleidoskop von Momentaufnahmen wird, sondern eine Geschichte mit Anfang und Ende. Bizets Carmen beginnt als Operette und endet als Drama – das Stück muss also auch Carmens Passion für den Tanz zeigen. Das Leben selbst ist schließlich eine ständige Show – wir filmen uns, wollen uns schön zeigen und lebendig fühlen.

Martin Mutschler: Durch das ganze Stück hindurch scheint José zu Carmen zu sagen: „Sag mir, wie man lebt!“ Denn sie weiß es ja, und von ihr könnte er es lernen. Doch er zerstört seine Lebenschance, indem er sie tötet. Sie bleibt ihm die Antwort schuldig, denn es ist zu spät: er hat alles zerstört. Wir hören nur noch ihr Atmen. Zugleich ist ihr Atmen jedoch auch eine Antwort auf seine Frage, denn es bedeutet: „Hier, im Moment lebt man, mit jedem Atemzug.“

Barbora Horáková: Don José ist eigentlich mit allem zu spät dran, da er seiner Vergangenheit nachhängt. Er kann nicht nach vorne schauen. Die Tragik Carmens besteht wiederum darin, dass sie Angst hat, nach hinten wie nach vorne zu blicken; ihre Zuflucht ist es, nur im Moment zu leben. Wie sähe eine Zukunft für sie aus? Man kann ja nicht nur von Tag zu Tag leben. Wieder alles eine Frage der Balance. Das Le­ben ist unvorhersehbar. Wie lebt man damit?