Atme das Leben
Opernhäuser auf der ganzen Welt suchen nach neuen Wegen, um ihr Publikum zu erreichen. Diese Bemühungen haben sich mit den Auswirkungen der Pandemie auf den Bereich der darstellenden Künste nur noch verstärkt. Die ermutigenden Erfahrungen der Birmingham Opera Company bei der Opernvermittlung könnten neue Wege eröffnen um ein breites Publikum anzusprechen. Der künstlerische Leiter Graham Vick hat die Oper immer als einen Vektor der Veränderung und Kommunikation verstanden.
Als Künstler besteht unsere Herausforderung nicht darin, wie wir geben können, sondern wie wir zurückgeben können - und ich meine zurückgeben an alle in unserem zunehmend komplexen und reichen Schmelztiegel der Völker. Die Wirkung der Musik verändert sich, indem sie die Menschheit berührt.
Vick ist an den führenden Opernhäusern der Welt kein Unbekannter, dennoch kehrt er immer wieder zu seinem Opernhaus zurück und inszeniert. Dort machen seine künstlerisch ehrgeizigen und intellektuell anspruchsvollen Inszenierungen keine leichten Zugeständnisse an ihr Publikum, das zu einem bedeutenden Teil ein Neuling in dieser Kunstform ist. Nichtsdestotrotz strömt die örtliche Gemeinde in Scharen herbei, um an Vicks Produktionen teilzunehmen und sich einzubringen. Was ist also sein Geheimnis?
Freisetzen, was bereits da ist
Obwohl Vick für seine experimentellen Inszenierungen bekannt ist, ist seine Herangehensweise an die Bühnenregie nicht ikonoklastisch. Seine Arbeit - „von den hochkomplexen, facettenreichen Inszenierungen, die das Publikum zu Entscheidungen herausfordern, bis hin zu den strengen, essentiellen Bühnenwelten, die es ermutigen, den leeren Raum mit phantasievollen Reaktionen zu füllen‟ - dreht sich immer um die Musik und versucht, sie freizusetzen.
Vick bezieht sich dabei auf die Interaktion der Musik mit der Bedeutung und versucht, die Interpreten dazu anzuleiten, sich so authentisch mit dem Material zu identifizieren, dass es durch sie wiedergeboren wird. Dieser Prozess des Abbaus von Barrieren und der Förderung direkter persönlicher Begegnungen, so Vick, gelte auch für die Öffentlichkeit. „Alles ist bereits da, bereits vertraut - wenn es nur freigesetzt werden kann.‟
Auf Augenhöhe
Vicks Produktionen treffen das Publikum auf Augenhöhe. In der Überzeugung, dass die Oper allen gehört, bemüht sich die Birmingham Opera Company aktiv darum, ihr Publikum auf ihrem eigenen Terrain zu finden. „Man muss nicht gebildet sein, um von der Oper berührt, bewegt und begeistert zu werden. Man braucht sie nur direkt am eigenen Leib zu erleben, ohne dass einem etwas im Wege steht‟, sagt Vick. Er erkennt und übernimmt die Verantwortung an, proaktiv die Barrieren zu beseitigen und die Verbindungen herzustellen, die die Kraft der Oper für alle freisetzen.
Es überrascht nicht, dass die örtliche Gemeinde in all ihrer ethnischen, religiösen und sozialen Vielfalt eingeladen und ermutigt wird, sich in seinem „immersiven Theater‟ in einem offenen, ermächtigenden Dialog einzubringen. Schon allein aus der Kraft der Inszenierungen wird deutlich, dass die andauernde Beziehung des gegenseitigen Vertrauens für alle Beteiligten bereichernd ist. In Vicks Inszenierungen gibt es keine intellektuellen Barrieren, jeder hat ein Recht auf seine Stimme und es gibt keine Vorsprechen. Der Prozess gleicht einem sich ständig weiterentwickelnden Experiment.
O welche Lust, in freier LuftDen Atem leicht zu heben!Nur hier, nur hier ist Leben!
Die Inszenierung von Fidelio aus dem Jahr 2002, einer von Vicks persönlichen Favoriten, ist ein erstaunliches frühes Beispiel dafür, wie immersives Theater, wenn es gut gemacht wird, uns alle befreien kann. Als Provokation gedacht, folgt das ganze Publikum Leonore auf ihrer Suche nach ihrem angeketteten Ehemann. Das Ergebnis ist eine mythische Reise in die Gefängnisse, die wir alle für uns selbst bauen. Und so haben über 200 Menschen aus Birmingham an ihrer eigenen Gefangenschaft teil und erleben Freiheit. Die Befreiung, die sich daraus ergibt, ist keine Einbildung, kein Schauspiel, sondern echt. Dies ist vielleicht das Geheimnis von Vick.
▶ Fidelio - Sehen Sie die gesamte Aufführung auf OperaVision vom 24. Oktober 2020 bis 24. Februar 2021.