Die Qual der Unvermeidlichkeit
Ein Interview mit Sebastian Fagerlund
Text: Pekka Hakko, mit freundlicher Genehmigung der Finnischen Nationaloper
Ingmar Bergmans herunterskaliertes und realistisches Drehbuch stellt eine Herausforderung für einen Opernkomponisten dar. Welche Freiheiten hat Ihnen das große Instrumentarium der Oper gelassen?
- In der Oper gibt es mehr Gelegenheiten, surreale Mittel einzusetzen. Ich kann Musik verwenden, um gleichzeitig stattfindende Ereignisse an verschiedenen Orten darzustellen und Ereignisse, die am gleichen Ort zu verschiedenen Zeiten stattgefunden haben, was bedeutet, dass ich verschiedene Zeitschichten miteinander vermischen kann. Bergmans Filmdrehbuch zum Beispiel spielt nur auf Leonardo an, den kürzlich verstorbenen Liebhaber der Konzertpianistin und Mutter Charlotte. In der Oper wollte ich, dass er eine stärkere Präsenz hat, also kommentiert der Tote das Leben der Lebenden aus einiger Entfernung. Die Oper erlaubt mir mit der Grenze zwischen Realem und Imaginärem zu spielen und diese bis zum Äußersten zu dehnen. Das finde ich enorm faszinierend.
In Herbstsonate manifestiert sich das vor allem in der Musik um Charlotte. Die Konzertpianistin und Mutter ist zum Haus ihrer Tochter gereist, aber sie lebt immer noch sehr in ihrer eigenen Welt.
Ja. Der Chor ist eine Erweiterung von Charlottes Ego, das Konzertpublikum, das sie begleitet, wo auch immer sie hingeht. Das ist so, weil Charlotte ihr Publikum braucht, es bedeutet ihr alles. Es tritt in ihre Fußstapfen, anfangs nur in ihrer Vorstellung. Später infiltriert es auch Schritt für Schritt die Realität im Pfarrhaus und die der anderen Charaktere, sodass diese auch mit dem Chor zu kommunizieren beginnen. Solch eine Erweiterung der ungezügelten Phantasie kann in einer Oper sehr bedeutsam werden, hier zeigt sie den Egoismus der Mutter in tragikomischen und absurden Szenen.
Die Oper ist surrealer als Bergmans Film. Die stumme Helena zum Beispiel wird gesund, steht aus ihrem Bett auf und beginnt ihre Geschichte zu erzählen.
Das ist einer dieser erstaunlichen Momente, die einen fühlen lassen, dass in der Oper alles möglich ist. Am Ende halten sie weder ihre Unfähigkeit sich zu bewegen oder zu sprechen noch ihre traumatischen Erfahrungen davon ab, zum Leben zu erwachen und sehr farbenreich die glücklichen Erinnerungen aus ihrer Vergangenheit zu erzählen. Eigentlich ist also Helenas Welt das einzige vollkommen reine und schöne Element der gesamten Oper.
Als die Familienmitglieder aus der Oper nach Jahren der Trennung unter einem Dach zusammenkommen, beginnen sie in der Vergangenheit zu wühlen. Trotz guter Absichten brechen alte Wunden wieder auf.
Es ist tragisch, aber leider ist es sehr realistisch. Diese Unvermeidlichkeit hat mich durch den ganzen Kompositionsprozess hindurch verfolgt und ist so wichtig geworden wie die Handlungen der Charaktere. Ihre Ziele sind nobel, doch sie sind von dieser Unvermeidlichkeit in Ketten gelegt. Am Ende macht ihre Unfähigkeit den letzten und entscheidenden Schritt zu setzen die Dinge noch schwieriger.
Ich habe mich wegen der Parallelen gefragt, die das in der realen Welt hat. Wir haben dieses große Bedürfnis etwas zu erreichen oder einen Unterschied zu machen, weil wir uns im Prinzip unseren Ängsten stellen und unsere Gefühle herauslassen wollen. Der letzte Schritt ist jedoch eine unüberwindliche Herausforderung für uns, also bleibt alles beim Alten. Es ist so viel einfacher weiterzumachen wie bisher oder in die Fußstapfen Anderer zu treten – egal ob wir nun über Umweltthemen oder politische und soziale Angelegenheiten sprechen.
Herbstsonate wird während des hundertjährigen Jubiläums der finnischen Unabhängigkeit aufgeführt. Hat das Ihren Kompositionsprozess beeinflusst?
Nein, das hat es nicht. Natürlich bin ich glücklich, dass ich die Gelegenheit bekommen habe, diese Oper für die Jahrhundertfeier zu komponieren. Auf der anderen Seite regt es mich nicht sehr an, nur etwas zu feiern, das in der Vergangenheit passiert ist. Für mich ist es viel wichtiger in die Zukunft zu schauen. In Höstsonaten (Herbstsonate) geht es um Interaktion zwischen Menschen, die Wichtigkeit aufeinander zu schauen und an die Gefühle und Bedürfnisse Anderer zu denken. Könnte es ein geeigneteres Thema geben, über das man während der Jahrhundertfeier nachdenken kann? Ich hoffe, dass unsere Oper interessante Fragen aufwirft, die dann in der Zukunft beantwortet werden.
Ich rufe zu Mut auf, die richtigen Fragen zu stellen und die richtigen Entscheidungen zu treffen, nicht nur in der Kunst, sondern auch in anderen Lebensbereichen. Seien Sie tapfer, gehen Sie ein Risiko ein!