Warum betrachten Sie L'elisir d'amore als eine Entwicklungs-Oper?
Die Oper erforscht Identität und den Verlust der Unschuld. Wenn man die Gelegenheit hat, mit einer Gruppe junger Darsteller*innen zu arbeiten, kann es nicht viel besser werden. Sie haben noch diese Zartheit, die für das psychologische Wachstum der Charaktere entscheidend ist. An einem langen Sommerabend verfolgen wir die emotionale Entwicklung der beiden Hauptfiguren. Im Morgengrauen sind sie völlig andere Menschen. Der Gedanke der Entwicklung, sowohl individuell als auch als Gruppe, ist das Herzstück dieser Oper. Die Interaktionen der Figuren und die Spannungen zwischen ihnen betonen ihr persönliches Wachstum. Diese Gruppendynamik spielt in meiner Regie eine wichtige Rolle.
Was sind neben der Gruppendynamik die anderen wichtigen Themen?
Die Entdeckung der Sexualität ist entscheidend für diese Arbeit, denn jeder erinnert sich an diese Gefühle des Zweifelns und nicht bereit zu sein oder nicht zu wissen, wie man mit dieser sexuellen Spannung umgeht. Natürlich spielen auch Getränke und Aufputschmittel in meiner Regie eine Rolle. Daran lässt der Text keinen Zweifel: Nemorino betrinkt sich. Aber es ist zu einfach, ihn auszulachen. Was passiert, wenn alle betrunken sind und plötzlich dumme Entscheidungen treffen? Würde diese Gruppendynamik etwas ändern?
Pedro Beriso hat in Zusammenarbeit mit Ihnen ein angepasstes musikalisches Arrangement erstellt. Was waren die Herausforderungen dabei?
Zunächst einmal ist das Libretto in L'elisir d'amore einfach fantastisch. Die Struktur ist perfekt. Jede Figur hat eine besondere Präsenz, und jede Interaktion steht im Libretto. Es passt alles zu Donizettis Musik. Da wir eine auf die Coronavirus-Maßnahmen zugeschnittene Version aufführen, mussten wir die Oper kürzen. Das war eine Herausforderung, die wir aber sehr gut gemeistert haben. Wir haben konsequent darauf geachtet, wie wir das Material bekommen können, das wir für das, was mir für die Oper vorschwebt, brauchen. Glücklicherweise hat Pedro verstanden, dass mir die Beziehungen zwischen den Figuren wichtiger sind als die Handlung, was mir die Freiheit gab, einige der Charaktere zu vertiefen.
Wie gelang Ihnen das?
Adinas Zurückweisungen und die Reaktionen ihres beliebten Freundeskreises sind ein großer Schlag für das Selbstbewusstsein des unerfahrenen Nemorino. Aber ich wollte nicht, dass dies ein Grund ist, ihn auszulachen. Ich wollte, dass sich das Publikum mit ihm identifiziert. Sein Leiden ist so real, dass man mit ihm fühlt. Hat sich nicht jeder schon einmal wie Nemorino gefühlt? Er hat seinen Platz in der Welt noch nicht gefunden; das heißt, seine Stellung in der Welt der anderen. Die gesellschaftliche Anerkennung spielt dabei eine wichtige Rolle. Adinas Beliebtheit und Reichtum hingegen entbinden sie davon, sich in die Gruppe einfügen zu müssen. Zumindest scheint es so. Auch sie hat Unsicherheiten, kann diese aber gut verbergen. Auch ihr Charakter ist vielschichtig und komplex. Als sich andere Mädchen Nemorino an den Hals werfen, wird sie eifersüchtig und erkennt ihre wahren Gefühle für ihn.
Und wie haben Sie den anderen drei Figuren mehr Tiefe verliehen?
Für das neue musikalische Arrangement mussten wir am Partylöwen und Schwindler Dulcamara herumbasteln. Basierend auf dem Originaltext habe ich versucht, ihn menschlicher zu machen: ein geschmeidiger Schmeichler, der heimlich versucht, sich selbst zu finden. Außerdem ist Belcore ein frecher Bösewicht. Ich wollte sein inneres Wesen in den Arien hervorkehren, damit wir ihm mehr Tiefe geben konnten. Schließlich ist Giannettas Charakter in der Originalversion etwas zurückhaltend, weil der Chor so dominant ist. Also ist es für sie ein Vorteil, dass es in meiner Inszenierung keinen Chor gibt, sie tritt so mehr in den Vordergrund und wird zu einer eigenständigen Figur: ein junges Mädchen, das verzweifelt versucht, beliebt zu sein.
Ist es kompliziert, die Charaktere zu vertiefen?
Der Belcanto in Donizettis Musik macht es mir als Regisseur leichter, die Figuren von innen heraus darzustellen. Zusammen mit Rossini und Bellini ist Donizetti ein Begründer des italienischen Belcanto des frühen 19. Jahrhundert. Bei diesem Gesangsstil spielen die Emotion und das Timbre des Interpreten eine große Rolle. Wenn man genau hinhört, gibt es in den Arien Momente, in denen man tatsächlich die Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen der Charaktere erleben kann. In dieser Version spielen wir mit diesen verschiedenen Perspektiven. Und der Einsatz von Rauschmitteln verändert die Wahrnehmung der Realität in einem noch extremeren Maße.
Welche Stimmung wird bei den Zuschauern nach der Aufführung hängen bleiben?
Ich hoffe, dass die Leute sich selbst auf der Bühne wiedererkennen und dass Donizetti Dinge über Sie enthüllt, die Sie noch nicht wussten. Das Geschehen ereignet sich in der schwülen Atmosphäre eines italienischen Sommers, mit einer Sonne, die blendet, und einer Nacht, welche die Figuren mit Geheimnis und Ungewissheit umhüllt. Eine Nacht voller nie dagewesener Möglichkeiten.