Eine Liebeserklärung an Bernsteins Candide
1953 schlug die bekannte Dramatikerin Lillian Hellman Leonard Bernstein vor, Voltaires Candide für das Musiktheater zu adaptieren. Voltaires Novelle von 1759 persiflierte die populären Philosophien seiner Zeit und richtete sich speziell gegen die katholische Kirche, deren Inquisition angebliche Ketzer in den berüchtigten Autos da fé (portugiesisch für „Akt des Glaubens“) zu Tode folterte. Hellman beobachtete eine unheimliche Ähnlichkeit zwischen der Scheinheiligkeit und Gewalt der Säuberungsaktionen der Inquisition und den vom Ausschuss für unamerikanische Aktivitäten des Repräsentantenhauses angewandten Taktiken, die durch antikommunistische Propaganda angeheizt wurden. Sie freute sich regelrecht über die Idee, Parallelen zwischen Voltaires bissiger Satire und der aktuellen US-Politik zu ziehen.
„Das war die Zeit der Hollywood-Blacklist... Fernsehzensur, verlorene Jobs, Selbstmorde, Ausbürgerung und die Verweigerung von Pässen für jeden, der auch nur verdächtigt wurde, einmal einen mutmaßlichen Kommunisten gekannt zu haben. Dafür kann ich mich verbürgen; mir wurde von meiner eigenen Regierung ein Pass verweigert. Voltaire übrigens auch... Seine Antwort war Satire, Spott und in seinem Leser durch Lachen Selbsterkenntnis und natürlich Selbstrechtfertigung zu provozieren: „Wer, ich? Nicht ich.“ Was Diskussionen hervorruft, und Debatte ist schließlich der Eckpfeiler der Demokratie. So waren Lillian und ich natürlich von Voltaires... Witz und Weisheit magnetisiert und machten uns schnell an die Arbeit...“
– Bernstein in den Noten für eine Konzertfassung von Candide von 1989
Hellman begann mit der Arbeit am Libretto, unterstützt vom Dichter John Latouche und von Bernstein selbst, der zahlreiche musikalische Sketche schrieb. Bald ersetzte der Dichter Richard Wilbur Latouche. Hellman, Bernstein und Wilbur arbeiteten bis 1956 regelmäßig zusammen, wobei Bernstein gleichzeitig West Side Story komponierte. Als im Oktober desselben Jahres Candide in Boston aufgeführt werden sollte, steuerte die Dichterin und Schriftstellerin Dorothy Parker Texte zu Die Gavotte von Venedig bei, während Bernstein und Hellman Texte zu anderen Nummern ergänzten. Die Liste der illustren Texter wurde immer länger und länger.
Candide wurde erstmals am 1. Dezember 1956 als Musical am Broadway aufgeführt. Die Uraufführung wurde von Tyrone Guthrie geleitet und von Samuel Krachmalnick dirigiert. Ironischerweise war es gerade die Haltung gegenüber den Mächtigen für die Wahrheit einzutreten, die Hellman und Bernstein ursprünglich für das Projekt begeisterte, die die Aufführung nun bedrohte. Guthrie war besonders beunruhigt über die Auto da Fé-Szene mit ihrer schamlosen Verhöhnung des Ausschusses für unamerikanische Aktivitäten. Würde der dringende politische Impuls für die Entstehung des Musicals den Test der Zeit bestehen?
Wenn man etwas Unangenehmes zu sagen hat, sollte man stets ganz offen („candid“) sein.
Auch wenn Candide vor Ideen sprüht, so lastete doch ihre umfangreiche Programmatik auf ihr. Wenn der Auftakt zu seiner Premiere langwierig war, dauerte die Arbeit an seinen zahlreichen Revisionen dnoch länger. Sie gilt als eine der arbeitsintensivsten Broadway-Shows der Geschichte, die viele Inkarnationen überdauerte, bevor Bernstein das schuf, was er die „Final Revised Version“ nannte. Er präsentierte sie zusammen mit dem Londoner Symphonieorchester, dem er vorstand, im Dezember 1989 im Barbican.
Was bleibt also von Bernsteins geist- und temporeicher Interpretation von Voltaires Satire? Obwohl Candide mit seinem gleißenden Porträt von moralischer Korruption und Naturkatastrophen alle Hoffnung zunichte macht, hinterlässt er den Zuhörer unerklärlicherweise in einer heiteren Stimmung. Die Partitur, die als „Liebeserklärung an die europäische Musik“ konzipiert ist, wimmelt von Verweisen auf verschiedene Tanzformen wie Gavotte, Walzer und Polka und ist mit Belcanto-Arien, Komödien nach Art von Gilbert und Sullivan, Grand Opéra und Bernsteins „jüdischen Tango“ verflochten. Bernsteins Fähigkeit, die Tiefen der menschlichen Verderbtheit so leichtherzig und frech zu erforschen, zeigt jedes Anzeichen eines Geniestreichs. Beginnend mit dem unverhohlenen Witz der Ouvertüre über das sarkastische „Auto-da-fé (Welch ein Tag)“ schließt Bernstein den Kreis mit dem Finale „Lass unseren Garten wachsen“. Zugegeben, im Kontext der Erzählung ist jede Utopie verdächtig und wird als Schwindel entlarvt. Aus dem Kontext gerissen, können sich die Zuschauer*innen jedoch einen Moment aufrichtigen Optimismus gönnen. Nur ist nicht mehr der Optimismus der Unschuld, sondern die Haltung eines Menschen, der trotz aller Widrigkeiten zu hoffen wagt.
Wir sind weder rein, noch weise, noch gutWir werden das Beste tun, was wir wissen.Wir bauen unser Haus und hacken unser HolzUnd bringen unseren Garten zum Wachsen.