Eine schöne Einfachheit
Die italienische Originalfassung von Glucks Alceste, die 1767 in Wien uraufgeführt wurde, ist das deutlichste Beispiel für sein künstlerisches Credo. Sein Ziel war nichts Geringeres als die Reform der Oper und ihre Bereinigung von den Exzessen und Ablenkungen, die sie angesammelt hatte. Er wollte zum Vorbild der altgriechischen Tragödie zurückkehren, die Wichtigkeit des Wortes wiederherstellen und Musik komponieren, die wirkungsvolle Geschichten illustriert und antreibt.
Glucks unerschütterliche Ideale waren es, die ihn bei den größten Erneuerern der grand opéra des 19. Jahrhunderts, Wagner und Berlioz, beliebt machten, die jeweils überarbeitete Fassungen erstellten, um seine Opern wieder ins gängige Repertoire zu bringen. Wagner präsentierte 1847 in Dresden eine adaptierte und neu bearbeitete deutsche Fassung von Glucks Iphigenie in Aulis. Berlioz überarbeitete Orpheus und Eurydike für die Pariser Aufführung 1859.
Ich war darauf bedacht, die Musik wieder zu ihrer wahren Aufgabe zurückzuführen, nämlich der Dichtung in ihrem Ausdruck der Empfindungen und dem Reiz der Situationen zu dienen.
Orpheus ist nach wie vor Glucks meistgespielte Partitur, und die italienische Originalfassung von 1762 war die erste seiner Reform-Opern, wobei es sich um sein 30. Bühnenwerk in einer bereits 21 Jahre währenden Karriere handelte. Schließlich war es im Vorwort von Alceste, in dem er sein Manifest dargelegte:
Als ich mich daran machte, die Alceste in Musik zu setzen, nahm ich mir vor, sie von all den Mißbräuchen freizuhalten, die, eingeführt teils durch die übel angebrachte Eitelkeit der Sänger, teils durch die allzu große Gefälligkeit des Komponisten, die italienische Oper schon so lange Zeit entstellen und das prächtigste und schönste Schauspiel in das lächerlichste und langweiligste verkehren. Ich war darauf bedacht, die Musik wieder zu ihrer wahren Aufgabe zurückzuführen, nämlich der Dichtung in ihrem Ausdruck der Empfindungen und dem Reiz der Situationen zu dienen, ohne die Handlung zu unterbrechen oder sie durch unnütze und überflüssige Verzierungen abzukühlen [...] Ich war ferner der Ansicht, daß meine größte Anstrengung sich darauf beschränken müsse, eine schöne Einfachheit zu erreichen.
Es besteht ein allgemeiner Konsens darüber, dass Glucks grundlegend überarbeitete Version von Alceste, die 1776 für eine Aufführung in Paris komponiert wurde, das überlegene Werk ist, musikalisch anspruchsvoller und dramaturgisch abwechslungsreicher, indem der halbkomische Charakter des Herkules aus dem Quellstück von Euripides wieder in den letzten Akt aufgenommen wurde. Aber es ist die frühere italienische Version, die seine erklärten Ideale am besten verkörpert und die eine unbeirrbare und monumentale Integrität aufweist, die bei einer guten Aufführung, wie sie das Teatro La Fenice bietet, überwältigend sein kann.
Der Regisseur und Gestalter Pier Luigi Pizzi setzt seine charakteristische Eleganz ein, um eine antike Welt mit klaren, modernen Linien darzustellen: klassische Bögen; eine schlanke Palette von hauptsächlich weißer Farbe, die nach und nach von traurigem Schwarz durchdrungen wird, nachdem Alceste die schicksalhafte Entscheidung getroffen hat, ihr Leben für ihren Mann zu opfern; eine Ökonomie der Bewegung, so dass jede Geste etwas aussagt. Carmela Remigios skulpturales Gesicht und ihre Figur unterstreichen ihre klare Diktion und ihre silbernen Töne, und schaffen eine würdige und glaubwürdige Heldin. Marlin Miller verbindet heroischen Klang mit genuiner Angst als ihr verzweifelter Ehemann Admetus. Selbst die Kinder beeindrucken in der starken Nebenbesetzung und dem disziplinierten Chor. Der französische Dirigent Guillaume Tournaire übt eine stilvolle Kontrolle über die Kräfte von La Fenice aus.
Die Kraft von Glucks Vision in dieser Oper machte einen bleibenden Eindruck auf den jungen Mozart, als er die Proben für die Premiere in Wien besuchte. Glucks Musik bewegt sich in einem weitaus ruhigeren Tempo als die des sprunghafteren Mozarts, aber der jüngere Komponist lernte von der Textgestaltung des Älteren und nicht zuletzt von seiner Behandlung des Chors als integraler Bestandteil des Dramas. Dies zeigt sich erst mit dem ebenfalls klassisch inspirierten Idomeneo von 1780/81. Mozarts erstes Opernmeisterwerk geht über Gluck hinaus, ist aber fest in seiner Ästhetik verankert.
Heute brauchen wir gegensätzliche Kräfte wie Mozart und Gluck: Mozart für seine unübertroffene Menschlichkeit und die Einsicht in ihre Fehlbarkeit sowie ihre Bestrebungen; Gluck für seinen Adel und, in unserem verwirrten 21. Jahrhundert, für seine schöne Einfachheit.
▶ Alceste - Sehen Sie die gesamte Aufführung auf OperaVision vom 3. April bis 2. Oktober 2020.