Fünf unbekannte Juwelen des jungen Verdi in Nostalgia
Von Dirigent Carlo Goldstein.
Ein echtes vergessenes Juwel als Ouvertüre, zwei Schlüsselszenen aus Macbeth, ein atemberaubendes Violinsolo in I lombardi und eine für Sopranistinnen sehr anspruchsvolle Arie aus Il corsaro... Dirigent Carlo Goldstein wählt fünf intensive musikalische Momente aus all denen im zweiten Teil des Verdipasticcios.
1. Ouvertüre (Jérusalem)
Rivoluzione e Nostalgia bedient sich aus allen Verdiopern bis zu Stiffelio. Dies ist eine gute Gelegenheit, die Ouvertüre von Jerusalem aufzunehmen, die stark überarbeitete französische Version von I Lombardi alla prima crociata, ein Stück, das für viele Menschen wahrscheinlich eine Entdeckung sein wird. Ich verstehe wirklich nicht, warum es nicht öfter gespielt wird: Meiner Meinung nach kann es mühelos mit der Sinfonia aus La forza del destino, Luisa Miller oder der Vespri Siciliani konkurrieren. Diese dunklen, bedrohlichen Farben, die melancholischen Celli, die robusten Tutti, das triumphierende Finale (in Moll!) - Verdi vom Feinsten!
Wenn man sich Verdis Entwicklung als Komponist ansieht, fällt auf, wie das Orchester nach und nach farbiger und ausdrucksstärker wird und immer mehr von seiner Rolle als bloße rhythmische Begleitung des Gesangs abrückt. Diese symphonischen Intuitionen entwickelte Verdi schon in jungen Jahren. In Macbeth zum Beispiel reizt er die Möglichkeiten des Orchesters bis zum Äußersten aus und sucht nach den harmonischen und dynamischen Grenzen, die damals üblich waren. An einer Stelle verwendet er eine Nuance mit sieben "p" (für "pianissimissimissimissimo"), an einer anderen Stelle fordert er die Sänger auf, "senza voce" (ohne Stimme) zu singen. Man merkt, dass er versucht, das Ungreifbare zu beschreiben, etwas heraufzubeschwören, das mit der klassischen musikalischen Terminologie nur schwer zu benennen ist. Und um dieses Etwas auszudrücken, wird er sich immer mehr auf das Orchester stützen.
Diese Entwicklung wollten wir auch in unserer musikalischen Dramaturgie widerspiegeln: Während Rivoluzione mit seinem Pathos und seinen direkten Konflikten noch immer der klassischen Verdi-Architektur aus Chören, Duetten, Arien und Finale nahekommt, ist Nostalgia viel komplexer, auch symphonischer, und passt, so könnte man sagen, besser zu dem ausgeklügelten Rahmen und der nichtlinearen Erzählstrategie dieses zweiten Abends. Nostalgie ist ein Zerrspiegel, sie zeigt immer eine unvollständige Realität. Deshalb haben wir nach einer weniger offensichtlichen Musik gesucht, die sich anders artikuliert. Wir halten uns zwar immer noch an die Syntax des Verdi-Theaters, aber die musikalische Sprache ist freier und gewagter. Daher erschien es mir logischer, den Abend nicht mit einem vorhersehbaren "Hit", sondern mit einer weniger bekannten Ouvertüre zu eröffnen.
2. ‘Egli non riede ancora …’ e ‘Non so le tetre immagini …’ (Il corsaro)
Trotz einer komplexeren musikalischen Dramaturgie lässt Nostalgia noch Raum für schöne Arien wie diese, die bei Sopranistinnen ebenso bekannt wie gefürchtet sind. Eine junge Frau lässt ihre Gedanken zu ihrem abwesenden Geliebten schweifen. Ihr Blick wandert in die Ferne, sie wird von der Harfe begleitet, was der Arie unwillkürlich einen antiken Charakter verleiht. Sie singt von einer jahrhundertealten Wahrheit, einem Gefühl, das in jeder Generation die Herzen der Frauen ergreift, und das sie für die Dauer eines Liedes mit uns teilt. Ein Ozean trennt sie von der Person, von der sie träumt - eine schöne Metapher für das Gedächtnis und die Unmöglichkeit, die eigene Vergangenheit vollständig zu erschließen.
3. Finale des zweiten Akts (Macbeth)
Das Finale Secondo von Macbeth durfte natürlich nicht fehlen. Einmal, weil es sich um eine vollständige und unverwechselbare Verdi-Szene handelt, in der die dramatische Spannung 15 Minuten lang nicht eine Sekunde nachlässt. Sie ist um zwei großartige Hauptfiguren, eine Fülle von Nebenfiguren und schließlich den Chor herum aufgebaut, der die Gesellschaft im weitesten Sinne symbolisiert. Kurzum, eine perfekte Kombination aus dem Privaten, dem Politischen und dem Sozialen. Das Orchester erfüllt seine Rolle als symphonischer Kommentator voll und ganz und lässt uns oft etwas anderes hören als das, was die Figuren uns glauben machen wollen. Wie zum Beispiel den Brindisi (Trinkspruch), dessen Text auf ein heiteres Trinklied schließen lässt, das aber durch seinen erzwungenen Charakter eine regelrecht erschreckende Dimension annimmt.
Zweitens bietet diese Bankettszene auch ein interessantes Spiel mit wechselnden Perspektiven. Da ist die gegenwärtige Handlung, die von allen Protagonisten erlebt wird, die aber ständig von Erinnerungen an vergangene Ereignisse durchsetzt ist, von alten Dämonen, die nicht für alle gleichermaßen sichtbar sind. Ein gefundenes Fressen für eine Aufführung wie die unsere, die den subjektiven Blick, den wir auf die Vergangenheit werfen, sezieren will. Deshalb ist dieses Finale - eine Vernissage in einer Kunstgalerie als großes metaphorisches Bankett mit Erinnerungen, Anspielungen und Enthüllungen - der eigentliche musikalische Schlussstein von Nostalgia.
4. Die Schlafwandelszene (Macbeth)
Selbst nach Verdis hohen Maßstäben ist die Schlafwandelszene der Lady Macbeth ein einzigartiges Meisterwerk. Wie wir wissen, war sich der Komponist selbst dessen sehr bewusst: In seiner Korrespondenz gibt er - in aller Bescheidenheit - zu, dass er versteht, warum sie so erfolgreich ist. Es ist in vielerlei Hinsicht eine extreme Szene, die keineswegs den damals üblichen ästhetischen Normen für Sopranarien entspricht. Aber um den Tagtraum dieser Frau, die in die Abgründe ihrer eigenen Seele hinabsteigt, glaubwürdig darzustellen, musste man sich auf unbekanntes Terrain begeben.
Wieder einmal erreicht Verdi hier mit sparsamen Mitteln eine maximale Wirkung. Hören Sie sich die lange, betörende Orchestereinleitung an: Das Unbehagen überkommt Sie, bevor auch nur ein Wort gesungen wurde. Oder der deklamierte Anfang von Una macchia è qui tuttora mit diesem obsessiven Streichermotiv. Die Worte und die Melodie scheinen zunächst sehr einfach zu sein, aber ihre ständige Wiederholung hat etwas Unheimliches an sich. Oder diese Worte, die von Zeit zu Zeit von der Logik des vorherigen Satzes abweichen. Es ist sicher, dass etwas passiert. Die fragile, transparente Musik zieht uns nach und nach in den Wahnsinn einer Frau, die nur eines will: das Unwiederbringliche rückgängig machen, die Zeit zurückdrehen. Aber vergeblich. Auch wenn der Untergang der Macbeths erst im letzten Akt wirklich vollzogen wird, ist von der ersten Szene an alles unwiderruflich gesagt. In Macbeth ist es immer zu spät - was ihn für mich zu einer der nostalgischsten Opern Verdis macht.
5. Vorspiel und finales Terzett des dritten Akts (I Lombardi alla prima crociata)
Bei der Arbeit am Finale von Nostalgia wurde mir eines klar: Bestimmte Aspekte der Darstellung entziehen sich der Macht der Worte und können nur in der Abstraktion einer rein instrumentalen Musik ihren Ausdruck finden. Daher die Idee, das berühmte Preludio e terzetto und sein atemberaubendes Violinsolo einzubeziehen. In den Händen eines anderen Komponisten wäre dieser technisch anspruchsvolle Solopart - Verdi schrieb ihn für einen befreundeten Virtuosen - wahrscheinlich ein reines Bravourstück gewesen. Verdi geht jedoch einen Schritt weiter und baut das Präludium im folgenden Terzett noch weiter aus. Ich war beeindruckt von der Art und Weise, wie die Stimme der Violine mit den anderen Stimmen in Dialog tritt, als wäre sie eine Art eigenständige vierte Person. Als ich über die Geschichte nachdachte, die unser Zweiteiler erzählt, erkannte ich schnell die dramaturgischen Möglichkeiten, die dieses Stück bot. Eine neue Dimension, die diesem Ensemble, das zu den nostalgischsten des Verdi-Repertoires gehört, hoffentlich eine zusätzliche emotionale Note verleihen wird.