Guillaume Tell: Freiheit für alle

Rossini war gerade 31, als er in Paris Fuß fasste. Er blickte bereits auf eine illustre, gut 12jährige Karriere und über 30 Opern zurück. Sein brillanter zügiger Stil und schwindelerregenden Gesangsnummern hatten ihn in Italien zu beachtlichem Erfolg geführt. An der Pariser Oper erwartete ihn ein Publikum, das daran Gefallen fand, doch auch an große Oper mit prominentem Chor und langen Tanzeinlagen gewöhnt war. Mit Titeln wie Zelmira (Wien 1822) oder Semiramide (Neapel 1823) hatte Rossini seine Vision der grand opéra schon unter Beweis stellen können, und Rossini nahm sich Zeit, sich mit den neuen Gegebenheiten - nicht zuletzt auch mit der komplizierten Disposition im Hause - vertraut zu machen.

Die Oper umfasst in ihrer integralen Fassung gut fünf Stunden und kennt so viele verschiedene Versionen wie keine andere von Rossinis Opern. Er hangelte sich - zu durchaus üblichen ortstypischen Bedingungen - mit oft wechselnden Besetzungen auf der Bühne und im Graben von Probe zu Probe. So stellte sich erst im Laufe der Einstudierung heraus, welche Stücke es tatsächlich bis zur Eröffnung schafften und welche wegfielen. Das vollständig neue musikalische Material - die vorherigen Pariser Opern waren allesamt Bearbeitungen von älteren Werken - enthält auch ein paar folkloristische Noten: so findet u.a. der Kuhreihen, ein volkstümlicher Bauerntanz, seinen Weg auf die Pariser Bühne.

Auch wenn es keine Herzensangelegenheit Rossinis selbst war, machte er sich ein zeittypisches Sujet zu eigen: Die Freiheit und die damit verbundenen Kämpfe anderer Völker waren im Paris ein paar Jahre vor der Julirevolution absolut en vogue. Das spiegelt sich in den damals geschriebenen Opern Rossinis wider: In Le Siège de Corinthe (1826) sterben die Griechen lieber, als sich den Osmanen zu unterwerfen, in Moïse (1827) befreien sich die Hebräer aus der Unterdrückung durch die Ägypter und ziehen ins gelobte Land. Auch Guillaume Tell (1830), basierend auf Schillers Drama Willhelm Tell, über die Schweizer, die sich gegen die Habsburgische Fremdherrschaft auflehnen, passt in diesen Trend. Dabei etablieren die Librettisten keinen schweizer Nationalmythos, sondern bieten dem Publikum eine exotische Projektionsfläche für eigene Freiheitsträume; die Alpen mit ihren Schluchten waren den Pariser Zuschauern ähnlich fremd wie die Wüste Ägyptens.

Tell ist die letzte Oper, die Rossini komponierte, auch, wenn es ganz anders geplant war. 1829 unterschrieb er einen Vertrag, den Karl X höchstpersönlich gegenzeichnete, in dem er sich für die nächsten 10 Jahre ausschließlich der Académie Royale de Musique mit mindestens fünf Opern verpflichtete und sich eine lukrative monatliche Rente sicherte. Tell war damit 1830 die erste von geplanten fünf Opern, doch kurz danach wurde im Zuge der Julirevolution Karl X gestürzt und damit Rossinis Vertrag hinfällig. Während er gerichtlich für die Einhaltung, sprich Ausbezahlung seines Vertrages kämpfte, wollte er selbst nicht die darin enthaltene Exklusivitätsklausel brechen und stellte das Komponieren vorerst ein. Als 1835 der Rechtsstreit endlich zu seinen Gunsten beigelegt war, hatte sich Rossini in der Tat auch mental zur Ruhe gesetzt - somit war diese Oper auch eine Befreiung aus seinen beruflichen Pflichten für ihn.

Graham Vick, der Regisseur, erklärt in einem Interview zur Inszenierung in Pesaro: Il mio pubblico preferito è popolare [...] Nessuno possiede l’arte (Mein ideales Publikum ist nicht elitär […] Die Kunst gehört niemandem). Er zeigt in seinem Tell den Kampf zwischen einem aufbegehrenden Volk und einer gierigen, sadistischen Clique an Unterdrückern mit Pferdemodellen vor dem Hintergrund irgendwelcher schneebedeckter Gipfel - eher zufällig, scheint es, sind es Schweizer gegen Habsburger - so wie es schon bei der Pariser Uraufführung nicht primär um den Schauplatz, sondern ums Prinzip einer erkämpften Freiheit ging.

Dieser Artikel ist inspiriert von Programmhefttexten von Dr. hc. Reto Müller und Nicholas Payne.