Wer ist Kassandra?
In einer der überraschendsten Szenen in Cassandra, Bernard Foccroulles erster Oper, verweilt die aus der Mythologie stammende Heldin in der Bibliothek der Toten. Resigniert stellt sie fest, dass die Bücher, die sie umgeben, nicht ihre ganze Geschichte erzählen. Doch wer ist Kassandra eigentlich? Wer ist diese Frau, deren Gabe der Vorhersage und der Fluch, der auf ihr lastet, die Fantasie zahlreicher Autor:innen fesselte und deren Erinnerung heute in vielen Erzählungen - und sogar in einer neuen Oper - weiterlebt?
CAUGHT FOREVER IN THESE WORDS OF MADNESS …
Kassandra ist eine der Töchter von Priamos, dem König von Troja. Sie ist eine Priesterin und widmet ihr Leben dem Apollon. In den ältesten und am weitesten verbreiteten Versionen des Mythos verliebt sich Apollon in sie und verleiht ihr, um ihre Gunst zu gewinnen, die Gabe, die Zukunft vorherzusagen. Als Kassandra seine Annäherungsversuche zurückweist, kennt sein Zorn jedoch keine Grenzen. Niemand, nicht einmal Apollon selbst, kann eine göttliche Gabe rückgängig machen, doch indem er ihr in den Mund spuckt, gelingt es ihm, sie zu verfluchen: Niemand wird Kassandras Vorhersagen jemals wieder glauben.
In seiner Tragödie Agamemnon erweckt Aischylos den Eindruck, dass sie diesen Fluch vor allem sich selbst zu verdanken hat. Als der Chor sie fragt, warum sie unverständliche Worte spricht, wird ihre Sprache plötzlich klar: "Es ist Apollon, der mich so sprechen lässt ... Er hat um meine Liebe gekämpft ... Ich habe sie ihm versprochen - ich habe mich ihm verweigert .... Seit ich ihn betrogen habe, glaubt mir niemand mehr". Andere Versionen des Mythos lassen Zweifel an diesem angeblichen Wortbruch aufkommen (hätte Kassandra wirklich eine solche Gegenleistung verlangt?) und legen sogar nahe, dass sie ihre seherische Gabe bereits besaß, bevor sie Apollon begegnete.
Den Epen und Tragödien des antiken Griechenlands und Roms zufolge kam der Fluch Kassandra und ihrem Volk während des Trojanischen Krieges teuer zu stehen. Vergeblich sagte sie voraus, dass die Hochzeit von Paris mit der Griechin Helena die Stadt in Brand setzen würde, vergeblich warnte sie davor, das riesige hölzerne Pferd, das vor den Toren der trojanischen Stadt auftauchen würde, nicht hereinzulassen - die letzte List der Griechen. Laut Vergil sagt Kassandra das Unheil voraus, indem sie schreit, wie in Trance. Dies zeichnet sie auch in den Tragödien aus, die von ihrem Schicksal nach dem Krieg berichten. So erzählt Euripides in Die Troerinnen, wie Kassandra und ihre Mutter Hecuba nacheinander abgeführt werden. Kassandras Entführung ist besonders brutal: Nachdem er sie angegriffen hat, zerrt der griechische Held Ajax sie an den Haaren aus dem Tempel der Athene, bevor der mykenische König Agamemnon sie in sein Königreich bringt. Kassandra, die in Euripides' Tragödie von mehreren Figuren als "besessen" und "verrückt" bezeichnet wird, bereut ihr Schicksal jedoch nicht und ruft zur Überraschung aller zum Tanz auf, bevor sie verwirrt vorhersagt, wie sie und Agamemnon bei ihrer Ankunft in Mykene sterben werden:
"WENN ES EINEN GOTT GIBT, WERDE ICH FÜR DEN BERÜHMTEN AGAMEMNON ZUM UNGLÜCK - SCHLIMMER ALS HELENA: ICH TÖTE IHN. ICH LÖSCHE SEINE FAMILIE AUS ... GRÄUEL ... NEIN. ICH SAGE NICHTS VOM GRAUEN. NICHT EINE ERZÄHLUNG ÜBER DIE AXT, DIE MEINE KEHLE (UND DIE EINES ANDEREN) DURCHDRINGEN WIRD".
Diese Vorhersage erfüllt sich in den Tragödien Agamemnon von Aischylos und Seneca, die sich auf die Ermordung des Königs konzentrieren. Nach seiner Rückkehr erwartet ihn dort eine rachsüchtige Ehefrau, die nicht vergessen hat, dass er ihre Tochter Iphigenie geopfert hatte, damit der Wind für seine Reise nach Troja günstig stünde. Klytaimnestra wird nun Agamemnon opfern - und mit ihm seine neue Sklavin. Als Kassandra ihren Fuß auf mykenischen Boden setzt, sagt sie ihr eigenes, unmittelbar bevorstehendes Ende voraus, wie eine Wahnsinnige, die "schwankt", "deren schwankender Hals zittert", "unter dem Einfluss einer wahnsinnigen Wut" - so Seneca. Während Kassandras eigener Tod in ihrem Kopf klar ist, wird ihre Vorhersage von den Zuschauer:innen der Tragödie nie ernst genommen. In der Version von Aischylos reagiert der Chor verwirrt, sagt, dass er sie nicht versteht, und spricht erneut den tragischen Fluch aus, der Kassandra bis ans Ende ihrer Tage belasten wird: "Wir wissen, dass du vorhersagen kannst, Frau. Aber wir wollen deine Vorhersage nicht hören.“
… TRAPPED BY PENS IN THE MINDS OF MEN.
In modernen Versionen des Mythos wird diese stereotype Charakterisierung, die Kassandra als wahnhafte Frau und Orakel bezeichnet, allmählich abgeschwächt, während die Verweigerungshaltung der Zuschauenden stärker hervorgehoben wird.
Der Roman A Thousand Ships (2019) beispielsweise, in dem die britische Schriftstellerin Nathalie Haynes den Trojanischen Krieg aus der Sicht aller weiblichen Figuren erzählt, zeigt uns eine viel gelassenere Kassandra. In dieser Version schreit Kassandra nicht, sondern flüstert, hauptsächlich aus Angst vor den Reaktionen ihrer Familie. Doch das erweist sich als unbegründet: Nicht ein einziges Mal, wenn sie eine ihrer Visionen flüstert, schenkt ihr jemand Aufmerksamkeit oder macht Anstalten, ihr zuzuhören. Und als ihre Vorhersage dennoch eintrifft, spricht Haynes deutlich die den Trojanern eigene Gleichgültigkeit an: "Irgendwie vergaßen sie alle, dass Kassandra ihnen etwas vorausgesagt hatte, und überzeugten sich davon, dass sie etwas ganz anderes behauptet hatte."
In seiner populären Adaption "Troja" treibt Stephen Fry diese Idee auf die Spitze. In der berühmten Szene, in der die Trojaner zögern, das Geschenk des hölzernen Pferdes anzunehmen, geht die Debatte ruhig weiter, als ob Kassandra nicht schreien würde, dass der Inhalt des Pferdes austreten und für die Zerstörung ihrer Stadt sorgen würde. Kein Blick, keine hochgezogene Augenbraue oder sonstige Reaktion wird ihr zuteil. Auch der feministische Touch ist bei Fry vorhanden, denn als Apollon Kassandras Schönheit angreifen will, antwortet sie: "Nein! Ich bin nicht einverstanden!", mit einer Entschiedenheit, die dem 21. Jahrhundert gerecht wird.
Die Entwicklung Kassandras durch die klassische Literatur - von einer tragischen, hysterischen Figur zu einer Frau, die später versucht, ihr Schicksal wieder in den Griff zu bekommen - und dann die zunehmende Bewusstwerdung des männlichen Blicks, der sie historisch dominiert hat, hat auch das Kreativteam von Kassandra inspiriert. "In einigen klassischen Quellen wird Kassandra nicht geglaubt, weil sie hysterisch ist; in anderen spricht sie einfach eine andere Sprache", erklärt der Dramaturg Louis Geisler. "Wie dem auch sei, es ist immer sie, der die Schuld gegeben wird, während das Publikum sie doch nicht hören oder verstehen will, weil sie tief in ihrem Inneren wissen, dass ihre Vorhersagen wahr sind."
— DER CHOR
"Warum schwebt dieser Schrecken über mir?
an der Schwelle meines Herzens? -
Er sehnt sich nach Zeichen,
Er singt ein prophetisches Lied,
Unwillkommen und aufdringlich."
(...)
— SANDRA
In seinem Innersten muss der Chor ahnen...
— BLAKE
Ja, in seinem Innersten,
kennt auch der Chor die Zukunft.
—Cassandra (5. Szene)
Darüber hinaus zog das Produktionsteam Parallelen zum heutigen Umweltaktivismus, der stark weiblich geprägt ist. Auch hier wird oft erlebt, dass die Aufrufe zum Handeln unter dem Vorwand weiblicher Hysterie und jugendlicher Naivität zurückgewiesen werden. Komponist, Librettist, Regisseurin und Dramaturg:innen haben diese Tragödie in unsere heutige Welt übertragen, indem sie Kassandras modernen Spiegel geschaffen haben: die Klimaforscherin Sandra, die als Stand-up-Comedian den Ernst der Klimasituation zum Ausdruck bringt. Mit Humor versucht sie, sich Gehör zu verschaffen und glaubwürdig zu sein, aber vor allem versucht sie, die Menschen zum Handeln zu bewegen. Als der Fluch, der Kassandra befällt, auch auf Sandras Leben zu lasten scheint und ihre Schicksale zusammenzufallen drohen, werden wir Zeuge einer letzten Begegnung zwischen den beiden Frauen - jenseits der Grenzen von Zeit, Raum und Wahrhaftigkeit. Dort wird ihr durch Kassandras Erscheinen klar, dass die von den Göttern befreite Sandra alles hat, was es braucht, um den Unterschied zu machen.
"DOCH NUN, SANDRA ... GIBT ES KEINEN GOTT, DER DIR IN DEN MUND SPUCKT. NEIN, NIEMAND, NIEMALS, WIRD DIR DEINE STIMME NEHMEN".
Damit wendet sich Kassandra nicht nur an ihr modernes Gegenüber, sondern auch an jede:n von uns. Mit der Botschaft, dass wir im Jahr 2023 immer noch die Möglichkeit haben, die aktuellen und zukünftigen Klimaprobleme anzugehen, fügt die Oper Kassandra der mythologischen Figur, auf der sie basiert, eine weitere Dimension hinzu: Von nun an verkörpert Kassandra nicht nur die Tragödie, sondern auch die Hoffnung, dass ihr Fluch noch gebrochen werden kann.
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Eline Hadermann