Leonore 40/45
Albert und Yvette verlieben sich in Paris, aber zu einem ungünstigen Zeitpunkt. Es ist das Jahr 1941. Er ist ein deutscher Besatzungssoldat und Klarinettist, sie eine junge französisch-tschechische Pianistin. Als die Nachkriegsbehörden verkünden: „Keine Heirat zwischen Feinden!“, hilft Emile den jungen Liebenden; als Showmaster wie auch als Schutzengel.
Leonore 40/45 ist eine Oper von Rolf Liebermann, Schweizer Komponist und ehemaliger künstlerischer Leiter der Pariser Oper. Der Stil der Oper entspricht den 1950er Jahren, verwurzelt in der 12-Ton-Tradition von Schönberg und Berg, aber aufgehellt durch lyrische Zwischenspiele und Semiseria-Einsätze. Die Uraufführung 1952 im neutralen Basel war ein Erfolg, aber das Thema erwies sich als zu heikel für das Publikum im Deutschland der 1950er Jahre, für das Versöhnung an Kollaboration erinnerte. Die Inszenierung im Oktober 2021 ist Teil von Fokus '33, einem ehrgeizigen Programm des Theaters Bonn zur Wiederbelebung vergessener Werke aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Liebermann setzte sich als erster Präsident von FEDORA, dem Europäischen Kreis der Philanthropen für Oper und Ballett, dafür ein, die Nationen der Oper zusammenzubringen. Er hätte sicher seine Zustimmung dazu gegeben, dass OperaVision diese erste Inszenierung seiner Oper seit über 60 Jahren mit dem Publikum in aller Welt online zeigt.
Besetzung
Yvette | Barbara Senator |
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Germaine, her mother / A white haired melomane | Susanne Blattert |
Albert | Santiago Sánchez |
Hermann, his father | Pavel Kudinov |
Lejeune | Martin Tzonev |
Monsieur Emile | Joachim Goltz |
A young Massenet enthusiast / The Patroness | Katrin Stösel |
A Soldier | Christian Specht |
The first president of the Court | Jeongmyeong Lee |
The second president of the Court / An old melomane / An educated man etc. | Michael Krinner |
A Waiter / A Newsvendor / A Judge | Takahiro Namiki |
First prisoner | Justo Rodriguez |
Second prisoner | Enrico Döring |
Chor | Chor des Theater Bonn |
Orchester | Beethoven Orchester Bonn |
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Musik | Rolf Liebermann |
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Text | Heinrich Strobel |
Dirigent | Daniel Johannes Mayr |
Inszenierung | Jürgen R. Weber |
Bühne | Hank Irwin Kittel |
Licht | Friedel Grass |
Chorleitung | Marco Medved |
Korrepetition | Igor Horvat & Pauli Jämsä |
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Video
Handlung
PROLOG
Wenig geöffneter Vorhang, in den Hintergrund führende Straße des Vorspiels, schwach angeleuchtet: Monsieur Emile, ein irdisch-überirdisches Wesen, der befrackt-beflügelte »rettende Engel«, kündigt eine »banale Geschichte« an, eine Liebesgeschichte aus der Gegenwart, die er reflektierend begleiten und in die er aktiv eingreifen werde, wenn die Liebenden oder die Autoren nicht weiter wüßten.
Vorspiel, zwei Häuser, durch eine Straße getrennt, links das deutsche, rechts das französische Haus, schwarz-weiß-roter und blau-weiß-roter Grenzpfahl; beide Häuser zu ebener Erde geöffnet, so daß man in die jeweiligen Zimmer sieht; nach oben Fensterfront: Vater und Sohn Albert hören aus dem Radio Musik aus Beethovens FIDELIO, die durch die Sondermeldung der Mobilmachung jäh unterbrochen wird. Die Einberufung gilt Albert, dem jungen Oboisten mit Mendelssohn-Stipendium, der kurz vor seinem Diplom steht. Sein Vater, ein alter Sozialdemokrat, verdammt lauthals das todbringende Lügenregime und gibt der Hoffnung Ausdruck, Albert könne wenigstens im Musikkorps dienen.
Auf der französischen Seite entnehmen Germaine und ihre Tochter Yvette der Zeitung die Mobilisierung der Deutschen. Ehemann und Vater Paul war im ersten Weltkrieg gefallen. Im Gegensatz zu der Mutter hat Yvette, die 28jährige Klavierstudentin, keine Angst vor dem Krieg: Sie hat sich den Kinderglauben an den Schutzengel bewahrt.
I. AKT
1. Bild – Konzertsaal und Foyer in Paris, Winter 1941/42: Während das Publikum scharenweise der zwölftönigen Klaviermusik den Rücken kehrt und besänftigt erst zu Franz Liszts Liebestraum in den Saal zurückkehrt, finden sich Yvette und Albert in ihrer gemeinsamen Liebe gerade zur Neuen Musik wieder. Sie waren sich schon vorher im »Moulin de la Galette« begegnet und hatten einander in Razzien geholfen. Mit der Begründung, daß alle Menschen gleich seien, lädt die Mutter die beiden ein.
2. Bild – ein kleines Café an der Place Pigalle, Spätherbst 1943; Spätdämmerung: Albert und Yvette versichern sich ihrer Liebe und schwören, sich nie zu trennen.
3. Bild – Teil eines Platzes in Paris, 21. Aug. 1944; Morgendämmerung: Albert beschließt, seiner Truppe zu folgen, und appelliert an Yvettes Vernunft, die ihn bei sich verstecken will. Yvette jedoch glaubt nicht mehr an die Befreiung durch »Gewehre und Blut«, sie glaubt nur noch an die »Liebe, die stärker ist als Haß«.
II. AKT
4. Bild – Barackenlager in Frankreich, Aug. 1945; gegen halb sieben Uhr abends, Sonne: Während die deutschen Soldaten ihr Los beklagen, sehnt sich Albert nach Yvette, Emile sieht sich gezwungen einzugreifen, da die Geschichte, zu traurig, nicht weitergehen könne. Er zaubert eine schweizerische Idylle.
5. Bild – »zwischen Chur und Wallenstadt ein Chalet mit Blumenpfad«: Yvette findet in Emile ihren Schutzengel und fleht ihn an, ihr zu sagen, ob Albert noch lebe und wo er sei. Emile weiß Antwort und Rat: Albert arbeite bei einem Instrumentenbauer in Epernay, dieser suche für Exportgeschäfte eine deutsch sprechende Sekretärin. Emile wird Yvette auf seinem Flugmantel zu Lejeune-Frères bringen, damit sie der Stellenausschreibung in France-Presse zuvorkommt.
6. Bild – Büro- und Verkaufsraum des lnstrumentenmachers Lejeune-Frères, Epernay, Sept. 1945; heller Tag, gegen Mittag: Albert soll die Deutschkenntnisse Yvettes auf die Probe stellen; sie wird eingestellt.
7. Bild – amphitheatralisch gebauter Raum des Tribunals, nach 1945; alles liegt vorläufig im Dunkel, Licht nur vorn: Die Trauung von Yvette und Albert wird zunächst von einem Tribunal hartnäckig angefochten: »Keine Ehe zwischen Feinden«. Yvette kann mit der »Stimme, die in Tausenden von Herzen tönt«, das Tribunal noch nicht ganz umstimmen. Emile kommt nochmals zu Hilfe: Er zeiht das Tribunal der Inhumanität und preist Yvette: »Meine kleine Leonore«, eine Frau, »die der Narrheit der Welt den Mut ihres Herzens« entgegensetzte. Die Trauung kann über die Bühne gehen.
Einblicke
Leonore 40/45, dieses scharf profilierte, durch seine musikalische und textliche Anlage sich aus der „Norm" hebende Werk, das einen genußreichen Basler Uraufführungsabend bot und inzwischen sogar Anlaß zu Pro- und Contrademonstrationen gab, wird demnächst in Linz seine österreichische Erstaufführung erleben und im Rahmen des Musikfestes auch in Wien zu sehen sein.
Ein geistreiches, ein amüsantes, ein nachdenkliches Werk. Der Librettist Heinrich Strobel, Musikschriftsteller, Herausgeber der „Melos"-Zeitschrift und musikalischer Leiter des Südwestdeutschen Rundfunks, gehört ebenso zur zeitgenössischen, fortschrittlichen Garde, wie sein Kollege (ebenfalls musikalischer Leiter) vom Züricher Sender, der Komponist Rolf Liebermann. Beide besitzen Witz und Schärfe, bühnensicheren Instinkt und jene Attribute — sagen wir Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung — die dieser Oper ihre Wirkung geben.
In harten Kontrasten stehen sich Ernst und Satire, Heiterkeit und Groteske gegenüber. Ein deutsches und französisches Kleinbürgermilieu, auf zweigeteilter Bühne als Vorspiel; ein Konzertsaal, als Plattform einer anti-atonalen Demonstration; Paris, im Zeichen der Invasion; das Chorensemble deutscher Gefangener; das Geschäft eines französischen Instrumentenbauers; das halb realistische, halb gespenstische Tribunal (das von Wedekind sein könnte): — all diese Bilder sind belebt mit Figuren, die ihre scharfen Profile haben. Über das Ganze ist die alte und immer wieder lebendige Geschichte von zwei durch ihre Nationalität getrennten Liebenden gebreitet, während die Verbindung der Szenen jenem Monsieur Emile — einer übersinnlichen Figur, halb philosophischer Conférencier, halb desillusionistischer Prestidigitateur — in die zaubernden Hände bzw. in den alles zum Rechten ordnenden Kopf gelegt ist.
Eine Opera seria, ohne das Pathos von Gestern, das erfüllt war mit Weltschmerz oder Erlöserideen; eine Opera buffa, die Phrase demaskierend und mit Happyend dem Theater — teils in französischer, teils in deutscher Sprache — gebend, was des Theaters ist.
Zu diesem antichauvinistisch eingestellten, teils amüsanten, teils aufrüttelnden Opernbuch hat Liebermann eine Musik geschrieben, die durch ihren Stil, ihre Anpassungsfähigkeit und ihren geistigen, sagen wir besser, geistreichen Gehalt ihre eigenen Wege geht. Man denkt an Weill-Brecht, an Paul Dessau, an Ernst Krenek, doch lassen sich keine Analogien herbeiführen, umso weniger als Liebermann entschieden einen eigenen musikalischen Stil besitzt, der auch nichts mit Eklektizismus gemeinsam hat. Da eine Musik, die durch den Begriff Opera semiseria bedingt ist, sich außergewöhnlicher Schwierigkeiten zu enthalten hat, bedient sich der Komponist zumeist einer relativ einfachen, problemlosen Sprache…
Hans Erich Apostel
In: Österreichische Musikzeitschrift. Band 8, Heft 3–4. Wien. 1953.