Theodora
Für Theodora, eine zum Christentum konvertierte Prinzessin, bedeutet das irdische Dasein nichts im Vergleich zur Verheißung des ewigen Heils. Sie widersetzt sich dem Befehl des römischen Kaisers, Jupiter zu verehren, und zieht es vor, im Namen der Religionsfreiheit zu sterben.
Händels vorletztes Werk, das 1750 in London uraufgeführt wurde, schrieb er in seinen frühen 60er Jahren. Es ist das einzige seiner Oratorien, das auf einem christlichen Thema basiert. Händel und sein Librettist Thomas Morell entfernten sich vom dramatischen Potenzial der Märtyrerlegende und konzentrierten sich stattdessen auf den inneren Konflikt der Protagonistin, wodurch ein kontemplatives Werk über religiöse Toleranz, christliche Tugenden und humanistische Werte entstand. Dieser neue Ansatz inspirierte Händel zu einer Partitur von beispielloser musikalischer Introspektion, und er betrachtete es als sein Lieblingsoratorium. Das Werk beschwört alle musikalischen Farben und Nuancen herauf, um Tugend und Glauben zu verherrlichen. Der Komponist wechselt zwischen majestätischen Szenen, die die Gewalt der Römer illustrieren, und der Barmherzigkeit der Christen. Für Regisseur Stefan Herheim ist Theodora damit ein Leuchtturm in der Geschichte des Musiktheaters, der vor dem Hintergrund des spirituellen Vakuums des Konsums und der geistigen Orientierungslosigkeit, die unsere Zeit prägen, an Aktualität gewinnt. Der weltweit gefeierte Countertenor und Händel-Spezialist Bejun Mehta debütiert als Dirigent am MusikTheater an der Wien mit dem La Folia Barockorchester.
BESETZUNG
Theodora | Jacquelyn Wagner |
---|---|
Didymus | Christopher Lowrey |
Septimius | David Portillo |
Valens | Evan Hughes |
Irene | Julie Boulianne |
Orchester | La Folia Barockorchester |
Chor | Arnold Schoenberg Chor |
... |
Komposition | Georg Friedrich Händel |
---|---|
Libretto | Thomas Morell |
Musikalische Leitung | Bejun Mehta |
Inszenierung | Stefan Herheim |
Bühnenbild | Silke Bauer |
Kostüme | Gesine Völlm |
Licht | Franz Tscheck |
Video | Roman Hagenbrock |
Dramaturgie | Kai Weßler |
Chorleitung | Erwin Ortner |
... |
VIDEO
HANDLUNG
I. Akt
Der römische Statthalter Valens in Antiochia, verkündet ein neues Gesetz, das jeden verpflichtet, Jupiter am Geburtstag des Kaisers ein Opfer zu bringen. Jeder, der sich weigert, wird hingerichtet. Der Offizier Didymus bittet vergeblich darum, eine Ausnahme für diejenigen zu machen, deren Glaube es ihnen verbietet, andere Götter zu verehren. Didymus sympathisiert mit den Christen, die sich weigern, Jupiter zu opfern. Prinzessin Theodora, die frisch zum Christentum konvertiert ist, ist bereit, für ihren Glauben zu sterben. Doch zu ihrem Entsetzen erfährt sie, dass sie statt hingerichtet zu werden, zur Prostitution gezwungen werden soll. Didymus ist entschlossen, die Prinzessin zu retten.
II. Akt
Didymus gesteht seinem Kameraden Septimius, dass er zum Christentum übergetreten ist und Theodora liebt. Beeindruckt von seinem Mut, erlaubt Septimius ihm, Theodora im Gefängnis zu besuchen. Dort bietet er ihr an, sie zu retten, indem er mit ihr die Kleider tauscht, damit sie fliehen kann. Doch Theodora verlangt, dass Didymus sie tötet, um ihre Ehre als Jungfrau zu retten. Als er sich weigert, weil er kein Mörder sein will, willigt sie in seinen Plan ein.
III. Akt
Theodora ist geflohen und wird von den Christen freudig empfangen. Dann erfährt sie, dass Didymus zum Tode verurteilt werden soll und dass Valens auch für sie einen grausamen Tod plant. Doch da ihre Keuschheit nicht mehr in Gefahr ist, liefert sie sich den Römern aus. Didymus verteidigt sein Handeln damit, dass die für Theodora vorgesehene Strafe ihre Rettung rechtfertige. Theodora besteht darauf, dass sie anstelle von Didymus verurteilt werden soll. Doch Valens zeigt kein Erbarmen und verurteilt beide zum Tode. In Erwartung der himmlischen Erlösung gehen die beiden in den Tod.
Einblicke
Katakombe und Kathedrale
Gespräch mit dem Dirigenten Bejun Mehta und dem Regisseur Stefan Herheim
Georg Friedrich Händels Oratorium Theodora gehört zu den späten Werken Händels und entstand neun Jahre nach seiner letzten Oper. Was unterscheidet das Werk von einer Oper?
Stefan Herheim: Händels englische Oratorien markieren einen Paradigmenwechsel. Im Zuge der Aufklärung wurde das Londoner Bürgertum der italienischen Oper überdrüssig und begann, sich auch in seinem Kunstkonsum auf moralische Wertvorstellungen zu besinnen. Antike Mythen, sängerische Virtuosität und spektakuläre Bühneneffekte wichen erhabeneren Stoffen mit gesellschaftlich relevanten Themen wie religiöse Toleranz und humanistische Werte. Theodora wurde im gerade neu eröffneten großen Opernhaus am Covent Garden aufgeführt, musste aufgrund des religiösen Inhalts aber ohne szenische Theatralik auskommen. Das inspirierte Händel zu einer bis dahin unerhörten musikalischen Innerlichkeit, bei der dem Chor eine reflektierende Funktion und weit größere Bedeutung zukommt.
Was ist deine Motivation, Theodora als Musiktheater zu inszenieren?
SH: Im Kern ist der Konflikt zwischen Römern und Frühchristen von der Unmöglichkeit bestimmt, in einer materiell ausgerichteten Welt einen höheren Lebenssinn zu finden. Was unserer heutigen pluralen und multikulturellen Gesellschaft fehlt, sind verbindliche Werte, ein vereinendes Projekt, eine gemeinsame Vorstellung vom Leben und der Welt. In Händels Oratorium geht es um diese existenzielle Lücke, um die Sehnsucht nach einem sinnstiftenden Heil, das ein Leben in Frieden ermöglicht. Es ist nicht nur ein christliches, sondern vor allem ein philosophisches, durch Musik sich vermittelndes Ideendrama, das nicht nur Momente des späteren Gesamtkunstwerks und der Kunstreligion Richard Wagners antizipiert, sondern auch des epischen Theaters Bertolt Brechts.
Welche Art von Spiritualität vermittelt Händels Musik?
Bejun Mehta: Ich finde es immer wieder erstaunlich, wie kraftvoll Händels Partitur ist: Theodora ist ein universelles Meisterwerk. Sowohl als Sänger der Rolle des Didymus als auch jetzt als Dirigent habe ich immer wieder erlebt, dass diese Partitur, wenn sie einfühlsam aufgeführt wird, irgendwann „abhebt“. Ich kann es nicht besser beschreiben; es geschieht auf fast magische Weise, aber es ist wirklich ein Aufstieg ins Metaphysische, der hier nach und nach stattfindet.
Es ist die Tiefe der Musik, ihr Reichtum, ihr Ernst und die Umarmung, die diese Musik ausmacht. Und wenn ich Umarmung sage, dann meine ich die Verbundenheit mit dem Universum und dem Universellen, die diese Musik erschafft. Das ist es, was viele Menschen bewegt und zum Weinen bringt, wenn sie Theodora hören. Händels Musik zeigt uns nicht nur, dass so etwas wie Schönheit überhaupt existiert, sondern sie konfrontiert uns mit Dingen in uns selbst und befragt uns auf diese Weise über unseren Platz im Universum. Das liegt vielleicht daran, dass Theodora alle Facetten des Menschseins enthält: das Gute, das Böse, das Grausame, das Hässliche, das Friedliche, das Großzügige, das Rachsüchtige, das Banale, das Liebenswürdige … Insofern ist das Oratorium eine Reflexion über den Menschen an sich.
Im Zentrum der Handlung steht mit Theodora eine Frau, die sich schon bei ihrem ersten Auftritt von der Welt abwendet. Wovon genau wendet sich Theodora da ab?
SH: Sie verachtet nicht die Welt, sondern die Eitelkeit und Hohlheit eines Lebens ohne einen höheren Sinn. Ihre Bereitschaft, für ihren Glauben in den Tod zu gehen, entspringt also keiner Todessehnsucht, sondern dem Wunsch, den Tod zu überwinden. Was die Römer anbieten, ist ein Leben ohne Transzendenz in Angst vor der Endlichkeit. Durch Christus wurde Gott zum Menschen, und sein Opfer zur Erlösung der Welt fordert jeden Menschen auf, dessen Kreuz auf sich zu nehmen. Indem sie über sich selbst hinauswächst, verwirklicht sich Theodora nicht nur als gläubiger Mensch, sondern auch als autonom handelnde Frau.
BM: Alles, was Theodora will und wovor sie zugleich Angst hat, ist in der Musik enthalten. Man hört sofort den inneren Kampf zwischen dem Tod und der Angst davor, den Theodora in sich trägt. Dieses Gefühl, etwas intensiv zu wollen und zugleich davor zurückzuschrecken, erlebt jeder irgendwann in seinem Leben. Wer war noch nie verliebt und hat nicht auch das Gefühl von Verlangen und Angst zur gleichen Zeit erlebt? Dies ist eine weitere Art und Weise, wie Theodora auf universeller Ebene eine Verbindung zu den Menschen herstellt.
Ziemlich genau in der Mitte des Oratoriums steht die große Gefängnisszene: Theodora erwartet, in ein Bordell gebracht zu werden, wo sie von dem niedrigsten der römischen Soldaten, so wird es angekündigt, vergewaltigt werden soll.
BM: Im Libretto ist die drohende Vergewaltigung ein großes Thema. Theodoras Sorge ist aber gar nicht so sehr die Vergewaltigung an sich, sondern vielmehr die Angst, durch die Beschmutzung der Liebe und Zuwendung Gottes nicht mehr würdig zu sein. Das entspricht dem, was Stefan über den Zustand unserer heutigen Welt sagte, wie sie uns nicht nur voneinander trennt, sondern auch von unserem inneren Selbst.
SH: Die Schändung ihres Leibes ist für Theodora schlimmer als die Todesstrafe, weil diese sie auf den bloßen Körper reduziert und so Lust von Liebe abtrennt.
Händels Musik bietet viele Möglichkeiten eigener Interpretationen. Wie viel Freiheit lässt du als Dirigent den Sänger:innen?
BM: Wir hatten zu Beginn viele musikalische Proben, bei denen ich intensiv mit den Sänger:innen arbeiten konnte. Für einige von ihnen habe ich Verzierungen und Kadenzen geschrieben, wie ich es für mich selbst auch immer mache. Andere wiederum singen ihre eigenen Verzierungen und Kadenzen, an denen wir gemeinsam gearbeitet haben. Aber diese müssen nicht nur für die Stimme passen, sondern auch zur Figur und zur Situation. Ich bin ein Theatermensch, und wenn Stefan mich gebeten hat, eine Kadenz zu ändern, dann habe ich auf die Inszenierung reagiert – und umgekehrt. Nur bei einer engen Zusammenarbeit zwischen Regie und Dirigat können wir eine Musiktheaterproduktion erschaffen, die als Gesamtkunstwerk funktioniert.
Wir haben vorhin über den spirituellen Gehalt von Theodora gesprochen und über die universellen Fragen, die dieses Werk an uns richtet. Was bedeuten diese Überlegungen konkret für dich als Regisseur?
SH: So spannend die philosophischen Fragen des Oratoriums auch sind, in der theatralen Darstellung muss es um Menschen aus Fleisch und Blut gehen, mit denen man sich identifizieren kann. Wir haben uns für einen säkularen Raum entschieden, der für die Welt steht und zugleich ein kulturelles Echo hat, das die Sehnsucht nach einer anderen Welt widerhallen lässt.
Dieser Raum ist ein Wiener Kaffeehaus, dem Café Central in der Herrengasse nachempfunden, das wiederum eine Rekonstruktion des historischen Originals ist. Was ist hier gemeint, der historische Mythos des Kaffeehauses oder der reale Ort?
SH: Schon der Name „Café Central“ dient als Gedankenmodell: Ein Kaffeehaus als Zentrum der Welt. Die Architektur gleicht einer bürgerlichen Kathedrale, in der man bekanntlich Zeit konsumiert, aber nur den Kaffee bezahlt. Heute wird dieses Kaffeehaus von Touristen frequentiert. Seine ursprüngliche Aura als Ort eines gesellschaftlichen Miteinanders und des Diskurses über kulturelle Werte ist längst entflohen. Wir zeigen also nicht die Welt von Gestern, nicht die großen Geister der Wiener Moderne, sondern ein zur nostalgischen Ware gewordenes kulturelles Prinzip, ein modernes Babylon als Abbild unserer spirituell entleerten Welt. Hier spielt sich Profanes ab – viele kleine Alltagsgeschichten, die aber alle von der Sehnsucht nach Glück und einem höheren Lebenssinn angetrieben sind.
Was bedeutet das für die Wiedergabe der Handlung?
SH: Es geht mir gar nicht darum, die Geschichte linear wiederzugeben. Ähnlich wie in Luis Buñuels Film Der Würgeengel können Personal und Gäste dieses Kaffeehauses den Raum nie wirklich verlassen. Von Verfolgung, Gottvertrauen und Trost im Jenseits singend, bewegen sie sich zwischen dem Materiellen und dem Geistigen, das sie zu verbinden suchen. Das Kaffeehaus ist Katakombe und Kathedrale zugleich.
Nach einem Interview von Kai Weßler.