Ariadne auf Naxos

Strauss, Hofmannsthal und Ariadne

Die großen Gegensätze des Lebens

Bryan Gilliam


Nach Elektra (1908) kündigte Strauss an, dass seine nächste Oper (Der Rosenkavalier, 1910) eine Mozart-Oper sein würde: die klassische Aura der 1740er Jahre im Wien der Zeit Maria Theresias. Strauss hätte auch sagen können, dass seine nächste Oper (Ariadne auf Naxos) von der Klassik zum Barock übergehen würde, insbesondere zum französischen Barock von Lully und Molière, dessen Le Bourgeois gentilhomme Hugo von Hofmannsthal inspirierte. Viele Strauss-Fans schätzen Ariadne aus einer Reihe von Gründen besonders: die traumhafte Schönheit eines auf etwa dreißig Mitglieder reduzierten Orchesters, das faszinierende, scheinbar mühelose Zusammenspiel von Ernst und Komik, die Mischung von Gesangsformen (Koloratur, Lied, Arie, Ensembles) und Ausdrucksweisen (Sprechen, Tanzen, Soli, Trios, Quartette und Duos) sowie die spielerischen Anspielungen auf frühere Komponisten wie Mozart, Schubert und sogar Corelli.

Ebenso wichtig ist der historische Platz, den dieses Werk im Vermächtnis der Zusammenarbeit zwischen Strauss und Hofmannsthal einnimmt, denn dieses Werk war der zentrale Wendepunkt auf Hofmannsthals Weg vom Dramatiker zum Librettisten, vom vertonten Sprechtheater (Elektra) zum gesungenen Theaterstück (Der Rosenkavalier) bis hin zu Hofmannsthals Entschluss, mit Ariadne auf Naxos (1912) einen musikalischen Text zu schreiben. Hofmannsthal und Strauss wollten ein Gesamtkunstwerk für das zwanzigste Jahrhundert erschaffen, in welchem die verschiedenen Kunstformen in ihrer Gesamtheit wirken und jede Komponente ihre Integrität behält.   

Hofmannsthals Kritik an Elektra war, dass sein Text von der Musik überschwemmt wurde ("wie fette Bratensoße auf einem Roastbeef"). Seine spätere Selbstkritik am Rosenkavalier betraf den zu großen Textanteil. Diese Suche nach einem Mittelweg nahm die Form von Ariadne auf Naxos an, ursprünglich ein theatralisches Experiment, das sich als ihr längstes Opernprojekt herausstellte und etwa sechs Jahre dauerte. Hofmannsthal glaubte, aus diesem Experiment lernen zu können, wie man ein Libretto schreibt, in dem die musikalischen Nummern ihre vorrangige Bedeutung zurückgewinnen.

Das Modell für ein modernes Gesamtkunstwerk findet sich weder im deutschen Musiktheater noch im 19. Jahrhundert, sondern im französischen Barock, vor allem im Comédie-Ballet, das Gesang, Tanz und das gesprochene Wort umfasst. Auch Strauss wollte sich von der Aura Bayreuths und Wagners Vorstellungen von Musik als metaphysischem, erlösendem Heilraum lösen und folgte Hofmannsthals Beispiel, wenn auch zunächst nicht mit Begeisterung. Der Plan des Dichters war es, ein Divertissement am Ende einer gekürzten Fassung von Molières Stück Le Bourgeois gentilhomme zu konstruieren, in dem aus fünf Akten zwei wurden und anstelle der abschließenden türkischen Zeremonie eine Oper stehen sollte. Das ursprüngliche Konzept ihrer Oper schien simpel zu sein: zwei gegensätzliche Welten - seria und commedia - beide im Geiste Molières. Das Opernlibretto bot reichlich Gelegenheit für Tanz, Soli, Duette, Trios und sogar ein Quintett. Hofmannsthal ermutigte Strauss, sich in einem reduzierten (d. h. nicht-wagnerianischen) Maßstab zu bewegen.

Strauss machte sich sofort an die Arbeit und schrieb eine Bühnenmusik für das Theaterstück und sechs Nummern für die Oper:

1.    Doppelte Arie Ariadnes (‘Ein schönes war’/ ‘Es gibt ein Reich’)
2.    Das Lied des Harlekin (‘Lieben, Hassen’)
3.    Zerbinettas Koloraturarie ('Großmächtige Prinzessin’)
4.    Buffoquartett der Herren + Zerbinetta
5.    Buffotrio der Herren
6.    Finale (Ariadne und Bacchus)

Sie wurde 1912 uraufgeführt und war, einfach ausgedrückt, ein Flop: Das Publikum fand weder zum Schauspiel noch zur Oper einen sinnvollen Bezug, und die Erwartungen waren nach dem Erfolg des Rosenkavaliers hoch. Dichter und Komponist ließen zu Recht das Theaterstück fallen und schufen stattdessen einen unterhaltsamen Prolog mit Witzen hinter den Kulissen und einer leichten Einführung in die Bedeutung der nachfolgenden Oper. Dieses überarbeitete Werk (Prolog und Oper), das vier Jahre später entstand, war ein Erfolg und wird heute fast immer in dieser Form aufgeführt.

Oberflächlich betrachtet scheint die Oper von dem klassischen Paar Bacchus und Ariadne zu handeln, das in dem großen Gemälde von Tizian verewigt wurde, aber Strauss mochte keine Tenöre, und obwohl er Bacchus nicht aus der Partitur strich, machte er daraus eher eine Oper über die großen Polaritäten des Lebens, von A wie Ariadne bis Z wie Zerbinetta: Verliebtheit - Zügellosigkeit, Ewigkeit - Augenblick, Transzendenz - Illusion, Ablehnung - Akzeptanz. Eine dritte und kürzere Seite dieses Dreiecks ist der Komponist, hier ein Mezzo, der die Ariadne-Oper komponiert und sich auch (vorübergehend) in Zerbinetta verliebt.

(Malerei) Bacchus und Ariadne – Titian, Öffentlicher Bereich, via Wikimedia Commons
Bacchus and Ariadne

Doch Ariadne ist die Hauptfigur, nicht Zerbinetta, und ihre Bedeutung wird durch eine Begebenheit aus dem wirklichen Leben unterstrichen: Hofmannsthal hatte ein lebendiges Vorbild für Ariadne namens Ottonie von Degenfeld, eine Gräfin, deren Ehemann - Graf Christoph-Martin von Degenfeld - nur zwei Monate vor der Geburt der gemeinsamen Tochter Marie-Therèse starb. Die Gräfin erlitt einen Nervenzusammenbruch und war, wie Ariadne zu Beginn der Oper, kaum in der Lage zu sprechen oder zu gehen. Hofmannsthal begegnete ihr in diesem Zustand und befreite sie durch Besuche, Lektüre und Briefe (die im Jahr 2000 auf Englisch veröffentlicht wurden) aus den Fesseln der Geisteskrankheit. Hofmannsthal ermunterte sie zum Weiterleben: „Der Harlekin singt es besser, als ich es in Worte fassen kann“.

Du musst dich aus dem Dunkel heben,
Und wär es auch um neue Qualen!
Leben musst du, liebes Leben
Leben noch dies eine Mal.

Für die Geschichte des Verhältnisses Strauss-Hofmannsthal ist vor allem wichtig, dass der Dichter mit Ariadne nicht mehr wie bei Elektra und Rosenkavalier Stücke zur Vertonung schrieb, sondern erstmals ein Libretto, bei dem die musikalischen Gestaltungsmöglichkeiten in den Text selbst eingebettet waren. Damit begann eine neue Zusammenarbeit, in der Hofmannsthal ein gewisses Vertrauen in den Komponisten entwickelte und ihm erlaubte, Räume für Strauss' Musik zu schaffen. Schon der geschwätzige Prolog endet mit einer vollmundigen Arie für den Komponisten: „Musik ist eine heilige Kunst.

Hofmannsthal bezeichnete seine Libretti als ein Gerüst für die Musik, und in diesem Werk besteht es aus drei Teilen:

1.    Ariadne
2.    Zerbinetta (und ihre Freunde)
3.    Ariadne und Bacchus

Teil 1 ist von Streichern dominiert, meist in Moll und in langsamen bis gemäßigten Tempi. Teil 2 ist bläserorientiert, allegro und in heiterem Dur, während Teil 3 für volles Orchester und eine Mischung aus all dem oben genannten ist. Im Mittelpunkt von Teil 1 stehen zwei Ariadne-Arien („Ein schönes war“ und „Es gibt ein Reich“), während sich Teil 2 auf Zerbinettas große Koloraturarie „Großmächtige Prinzessin“ konzentriert. Der Schlussteil ist ein großartiges Duo zwischen Ariadne und Bacchus in einem weiten, fast wagnerianischen Rahmen.

 
(Foto: Hugo von Hofmannsthal im Jahr 1910)
Hugo von Hofmannsthal in 1910

Doch was Hofmannsthal Strauss anbot, war weit mehr als ein Schafott; auch wenn der Komponist es zunächst nicht verstand, so erklärte der Dichter:

Worum es bei Ariadne geht, ist eines der schlichten und gewaltigen Probleme des Lebens: die Delikatesse; ob man an dem Verlorenen festhält, sich auch im Tod daran klammert - oder ob man lebt, weiterlebt, damit fertig wird, sich verwandelt, die Unversehrtheit der Seele opfert und doch in dieser Verwandlung sein Wesen bewahrt, ein Mensch bleibt und nicht auf die Stufe des Tieres sinkt, das keine Erinnerung hat.

Im Mittelpunkt der Oper standen also die Entfremdung und die Bedeutung, über das gegenwärtige Selbst hinauszuwachsen, dabei aber das eigene Wesen zu bewahren. Ein solches dialektisches Problem, das Paradox des Vergessens bei gleichzeitigem Erinnern, konnte nur durch den Akt der Verwandlung gelöst werden. Indem Ariadne an der Seite von Bacchus in den Rang einer Gottheit erhoben wird, erlangen beide paradoxerweise ein tieferes Gefühl der Menschlichkeit. Dieses übergreifende Thema, das Strauss sein ganzes künstlerisches Leben lang begleitete, von Tod und Verklärung (1890) bis zu den Metamorphosen (1945), war für den Komponisten von großer Bedeutung.

Bryan Gilliam, Professor Emeritus, Duke University (USA)