Zu Beginn des 20. Jahrhunderts beschließt Gräfin Carmen Díaz de Mendoza Aguado, inspiriert und zugleich frustriert von Mozarts Don Giovanni, ihre eigene Version zu schreiben. Allerdings kämpft sie mit Zweifeln, gesellschaftlichem Druck und einer quälenden inneren Stimme, was zum Scheitern ihres Stücks führt. Jahrzehnte später tauchen Fragmente ihres Lebens und Werks in Nachrufen und verblassenden Erinnerungen wieder auf. Im Jahr 2024 versucht eine moderne Komponistin, die verlorene Oper wiederzuentdecken und neu zu erfinden: Sie tritt mit den Echos der Vergangenheit in Dialog, um die zum Schweigen gebrachte Stimme und Vision der Gräfin wiederzubeleben.
Dies ist die Geschichte einer neuen Oper von Helena Cánovas, die vom Festival Perelada in Koproduktion mit dem Gran Teatre del Liceu und dem Teatro Real in Auftrag gegeben wurde. Don Juan no existe ist eine Hommage an all jene Frauen, die allein deshalb aus der Geschichte getilgt wurden, weil sie als Frauen geboren wurden. Beim international renommierten Festival Perelada, das jeden Sommer in der monumentalen Anlage des Schlosses Perelada in Katalonien stattfindet, wurde das Stück in Szene gesetzt.
BESETZUNG
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Carmen Díaz de Mendoza
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Natalia Labourdette
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Helena
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Natalia Labourdette
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Augustin / Don Juan
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David Oller
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Miguel
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Pablo García-López
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Saxofon
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Helena Otero
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Schlagwerk
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Miquel Vich
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Streichquartett
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Cosmos Quartet
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Musik
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Helena Cánovas
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Text
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Alberto Iglesias
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Regie
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Bárbara Lluch
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Musikalische Leitung
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Jhoanna Sierralta
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Bühne
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Blanca Añón
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Kostüme
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Clara Peluffo Valentini
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Licht
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Urs Schönebaum
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Ton
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Sixto Cámara
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VIDEOS
HANDLUNG
I. Akt
Wir befinden uns im frühen 20. Jahrhundert. Eine Gräfin besucht in Begleitung von zwei engen Freunden eine Aufführung von Mozarts Don Giovanni. Sie beobachtet die Bühne, die Figuren und die Musik, kann sich aber nicht mit dem Stück anfreunden; warum sollte sie (wieder einmal) einem Don Juan zusehen, der sich so schamlos und ekelhaft verhält? Aber es löst einen kreativen Impuls aus: Sie will ihren eigenen Don Juan schreiben. Wir begleiten Carmen Díaz de Mendoza Aguado, die Gräfin von San Luis, in ihrem Atelier. Sie beginnt zu schreiben; doch es ist nicht nur ihre Stimme, die zu hören ist, sondern auch die Stimme ihrer Unsicherheiten, der Gesellschaft und sogar eines Geistes, der sie zurückhält. Sie ist allein, auch wenn ihr Freund Miguel ihr nahe steht; selbst er versteht nicht, warum sie an diesem seltsamen Projekt weiterarbeitet. Die Premiere naht und das Stück ist ein Misserfolg.
Nach einer Pause, mit Hilfe der Musik springen wir in der Zeit, ein Jahrhunderte nach vorne. Über der Musik erklingt die Stimme des Librettisten, Alberto Iglesias. Es handelt sich um eine Aufnahme von Fragmenten der verschiedenen Nachrufe, die die Zeitungen damals Carmen Díaz de Mendoza Aguado nach ihrem Tod widmeten.
II. Akt
Wir schreiben das Jahr 2024, und eine neue Schöpferin versucht, eine Oper zu vollenden und zu verstehen, was mit der Uraufführung von Don Juan no existe, einem Stück von Carmen Díaz de Mendoza Aguado, passiert ist. Ein Jahrhundert nach der Uraufführung hat die Komponistin Zeitungsausschnitte mit damals geschriebenen Kritiken gefunden, aber von der Autorin oder dem Text ihres Stücks ist kaum etwas übrig geblieben. Die neue Schöpferin muss es neu erfinden, um darüber sprechen zu können. Wieder ertönt die Gegenstimme, diesmal anders, und lässt die Autorin nicht zweifeln. Sie reden miteinander. Er fragt: „Warum suchst du so verzweifelt nach dieser Gräfin?“ Doch die Autorin ist von ihrer Arbeit überzeugt und wird ihre Suche fortsetzen.
EINBLICKE
Jetzt aus weiblicher Perspektive
Eine Einführung zu Don Juan no existe von dem Musikjournalisten Gonzalo Lahoz
Ist es an der Zeit, Don Juan zu töten? Diese Frage habe ich Helena Cánovas, der Komponistin, und Bárbara Lluch gestellt, der Regisseurin, die die Oper der katalanischen Komponistin beim Festival von Perelada zum ersten Mal auf die Bühne bringen wird. Beide sind sehr klar in ihrer Antwort: Libertin, Lebemann, Casanova, Frauenheld, Dandy … Ladykiller … „Don Juan“ – es besteht kein Grund, die Figur oder den Mythos abzuschaffen, aber wir sollten uns unbedingt von der Weise lösen, mit dem wir ihn seit Jahrhunderten betrachten. Anderen Menschen Raum geben, über ihn zu sprechen. Vor allem Frauen. Und in diesem Raum vorstellen und erinnern.
Die Figur des Don Juan und der Kult, der sich um ihn herum entwickelt hat, haben unzählige Szenarien hervorgebracht. Ein Held, Tod, Schicksal – lauter große literarische Themen, zusammen mit dem Spiel der Verführung, das im Laufe der Geschichte immer von Männern erzählt wurde. Diese Geschichte also, deren Mythos und Namen diese Männer ebenfalls kontrolliert hatten. Bis jetzt.
Vom 17. Jahrhundert über die Romantik bis hin zur Gegenwart haben wir immer diskutiert über den „Betrüger von Sevilla“, den burlador, der Tirso de Molina zugeschrieben wird. Später in die Bibliographie aufgenommen: La venganza del sepulcro, vermutlich von Alonso de Córdova, und No hay plazo que no se cumple ni deuda que no se pague von Antonio de Zamora. Dann kam El estudiante de Salamanca von Espronceda und natürlich Don Juan Tenorio von Zorrilla, der die Figur schließlich neben Molière, Goldoni, Merimèe, Dumas und Puschkin in die höchsten Ränge der Weltliteratur erhob. Und von dort aus eroberte sie die gesamte kulturelle Sphäre, besonders die der Musik. D wäre das Ballett von Gluck und die symphonische Dichtung von Strauss; ohne große Anstrengung fallen uns Mozarts Don Giovanni, der Herzog in Rigoletto, die Zarzuela El trust de los tenorios ein. Wie viele dieser Neuinterpretationen sind Ihrer Meinung nach aus der Perspektive einer Frau entstanden? „Don Juan“ geht über alle Theater-, Musik- oder Kunstwerke hinaus. Don Juan ist ein soziales Konstrukt.
Carmen Díaz de Mendoza Aguado, Gräfin von San Luis, war eine Schriftstellerin und Dramatikerin (geboren 1864 in Murcia, gestorben 1929 in Madrid). Sie lebte in einer Zeit intellektueller Blüte mit all ihren Licht- und Schattenseiten. Sie war Gründungsmitglied des Lyceum Club Femenino in Madrid, dem auch so bedeutende Persönlichkeiten wie Victoria Kent, Elena Fortún, Maruja Mallo, Clara Campoamor und die Komponistin María Rodrigo angehörten, die alle als „abnormal” gebrandmarkt wurden („Wir betonen erneut den sexuell ‚abnormalen‘ Charakter dieser Frauen, die sich in das Feld männlicher Aktivitäten stürzen und es schaffen, sich dort einen herausragenden Platz zu erobern.“ Drei Essays über das Sexualleben von Gregorio Marañón, 1927), Närrinnen und Verrückte („Als sie Jacinto Benavente baten, einen Vortrag im Club zu halten, antwortete er in seiner willkürlichen Art: ‚Ich habe keine Zeit. Und ich kann keinen Vortrag vor Närrinnen und Verrückten halten.‘“ Erinnerung an die Melancholie von María Teresa León, 1970) in ihrem Kampf um Teil der spanischen Kultur, Wissenschaft und Politik zu sein. Carmen Díaz de Mendoza brachte Mitte der 1920er Jahre mindestens zwei Theaterstücke zur Uraufführung.
Zu einer Zeit, als Jacinto Benavente triumphierte – und kurz vor seinem Tod das Schauspiel Ha llegado Don Juan (Don Juan ist da) präsentierte –, María Lejárraga im Schatten ihres Mannes schrieb (u. a. Don Juan de España) und ein junger Lorca sein erstes Theaterstück vollendete, während er in der Inszenierung Don Juan Tenorio der Residencia de Estudiantes auftrat, schrieb die Gräfin von San Luis Don Juan no existe (Don Juan existiert nicht). Eine Wendung, eine Satire, in der die Figur des Don Juan ihre Daseinsberechtigung verliert, als die Frau für ihn unerreichbar wird.
Tatsache ist, dass trotz der Uraufführung im Teatro de la Princesa im Jahr 1924 – heute Teatro María Guerrero (María Guerrero war ihre Schwägerin) – und der Aufführung im Teatro Colón in Buenos Aires heute keine Spuren des Stücks mehr zu finden sind, abgesehen von einer Kritik der ersten Aufführung, die natürlich von einem Mann geschrieben wurde. Und genau hier fügt Helena Cánovas dem Titel ihrer neuen Oper ihre besondere Note hinzu: Don Juan no existe. Sobre lo que olvidamos y lo que permanece (Don Juan existiert nicht. Über das, was wir vergessen und was bleibt).
Don Juan no existe ist nicht nur eine Reflexion über den Mythos Don Juan und seinen Platz in unserer eigenen kulturellen Tradition, sondern gleichzeitig auch ein Blick auf die Gesellschaft, die wir im Laufe der Jahrhunderte um die Figur des Mannes und die Verleugnung der Frau herum aufgebaut haben. Wir müssen Díaz de Mendoza und ihr Werk neu erfinden, um darüber sprechen zu können, wie Cánovas selbst erklärt; und ausgehend davon, die Gräfin (Sopran) und ihre Freunde (Tenor und Bariton) werden mit Mozarts Don Giovanni konfrontiert, alles in Richtung der Forschungsarbeit und musikalischen Interpretation im Jahre 2024 extrapoliert. Über dem Libretto von Alberto Iglesias entfaltet sich eine Partitur aus Streichquartett, Saxophon, Percussion und live gespielten elektronischen Elementen.
Was vergessen wir? Was wollen wir bewusst vergessen? Was wollen wir bewusst bewahren? Und wer hat über all das bis jetzt entschieden?
Übersetzt aus dem Englischen
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