Lucia di Lammermoor
Lucia liebt Edgardo, den letzten Sohn der verfeindeten Familie. Ihnen droht Gefahr, doch Lucia will ihrer Liebe nicht entsagen. Ein Ring fällt zu Boden, der Albtraum beginnt – nachts unter Blitzen und Donner, in Wahn und Blut, eine Leiche, noch eine und eine letzte.
Staatsoper Hamburgs Lucia di Lammermoor macht die Stadt zur Bühne. Inspiriert von weltweiten Frauenprotesten hat Regisseurin Amelie Niermeyer in der Elbstadt Tänzerinnen gefilmt, die sie per Videos ins Opernhaus einlädt. Sie eilen der Hauptfigur Lucia zur Hilfe, die sich - wie die Regisseurin auch - als Frau in einer Männerwelt behauptet.
Besetzung
Lord Enrico Ashton | Christoph Pohl |
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Lucia | Venera Gimadieva |
Sir Edgardo di Ravenswood | Francesco Demuro |
Lord Arturo Bucklaw | Beomjin Kim |
Raimondo Bidebent | Alexander Roslavets |
Alisa | Katja Pieweck |
Normanno | Daniel Kluge |
Chor | Chorus of Staatsoper Hamburg |
Orchester | Philharmonisches Staatsorchester Hamburg |
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Musik | Gaetano Donizetti |
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Dirigent | Giampaolo Bisanti |
Inszenierung | Amélie Niermeyer |
Bühne | Christian Schmidt |
Licht | Bernd Purkrabek |
Kostüme | Kirsten Dephoff |
Chorleitung | Christian Günther |
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Video
Handlung
Als Normanno Enrico davon berichtet, reagiert dieser erbost, weil er seinen Deal mit Bucklaw in Gefahr sieht. Doch das Gerücht ist wahr: Lucia und Edgardo haben sich ineinander verliebt. Er hatte sie unbekannterweise erst kürzlich vor einem Stier gerettet, als sie auf dem Weg zum Grab ihrer Mutter war. Seither treffen sich beide heimlich. Weil Edgardo für eine Weile geschäftlich außer Landes reisen muss, würde er sich gerne mit Enrico aussprechen, um Lucia heiraten zu können. Lucia glaubt, dafür sei die Zeit nicht reif. Dennoch versprechen sich beide ewige Treue vor Gott und tauschen als Pfand dafür Ringe. So hoffen sie, die Zeit der Trennung zu überbrücken. Normanno hingegen hat die Briefe der beiden abgefangen. Aber er und Enrico gehen noch einen Schritt weiter: Sie verfassen ein Schreiben Edgardos an Lucia, das dessen Untreue beweisen soll. Zudem bringen sie den Priester Raimondo auf ihre Seite: Er möge um der Familienehre willen Lucia von ihrer Liebe abbringen. Lucia ist zunächst nicht bereit, dem Druck ihres Bruders nachzugeben. Doch der gefälschte Brief lässt sie an Edgardo zweifeln. Sie gibt ihren Widerstand auf und willigt ein, Arturo zu heiraten. Raimondo will ihr Gewissen erleichtern: Ihr Treueschwur habe weder vor der Welt noch vor Gott Bindungskraft, weil er ohne Beisein der Kirche vollzogen wurde. Der Eheschließung steht nichts mehr im Wege. Der Ehevertrag soll sogleich geschlossen werden; Arturo Bucklaw ist bereits vor Ort. Doch gerade als Lucia und Arturo den Ehevertrag unterzeichnet haben, unterbricht der soeben zurückgekehrte Edgardo die Zeremonie und stellt Lucia zur Rede. Sie muss bekennen, Arturo zum Ehemann genommen zu haben. Wütend wirft er ihr seinen Ring vor die Füße. Schlimmeres kann gerade noch verhindert werden, indem Edgardo des Hauses verwiesen wird. Als die Hochzeitsfeierlichkeiten auf dem Höhepunkt sind, unterbricht Raimondo das bunte Treiben. Er berichtet, wie er Schreie aus Lucias Zimmer dringen hörte, in ihr Zimmer gegangen sei und Arturo tot aufgefunden habe, offensichtlich von Lucia ermordet. Sie scheint verwirrt und glaubt, sich Edgardo erklären zu müssen. Nach ihrer Tat ist sie dem Wahnsinn verfallen. Sie bricht mit einem Wutanfall gegen Enrico vor der Hochzeitsgesellschaft zusammen. Edgardo muss sich eingestehen, dass er Lucia trotz allem noch immer liebt. Von Weitem vernimmt er Totenglocken. Raimondo klärt ihn auf, dass das Geläut Lucia gälte. Sie sei soeben verstorben. Edgardo nimmt sich daraufhin selbst das Leben.
Einblicke
Toxisch für beide Geschlechter
Wenn Frauen aufbegehren
Ein Blick in die Partitur von Gaetano Donizettis Lucia di Lammermoor zeigt einen ebenso D wie altbekannten Vorgang: Lucias Aufbegehren gegen ihre Zwangsverheiratung wird mit einem rein monetären Argument bezüglich des Familienwohls von ihrem Bruder Enrico weggewischt. Lucia hingegen fehlen die Mittel, sich effektiv dagegen zu wehren. Bis heute werde der emanzipatorische Akt von Frauen, die sich gegen eine Dominanz männlicher Strukturen zu Wehr setzen, abgetan als bedeute das Ansinnen nichts, schlicht weil die Macht noch immer überwiegend bequem in Männerhand liegt – so die Ansicht der Regisseurin Amélie Niermeyer.
Was für eine Schauergeschichte!
Die Handlung wirkt konventionell und durchaus typisch für die Zeit: Eine junge Frau wird aus familiären Gründen zu einer Ehe gezwungen, verzichtet deswegen auf ihre eigene große Liebe, doch das Dreieck aus Ehemann, Geliebten und ihr endet für alle drei tödlich. Die Rolle der jungen Frau scheint dabei zunächst die des still leidenden Opfers. So weit, so typisch, doch diese scheinbar so passive Lucia, bei deren Disposition alle historisch dem weiblichen Geschlecht zugeschriebenen Eigenschaften zum Vorschein kommen, reagiert ab dem Zeitpunkt ihrer Eheschließung nicht mehr wie von den Männern, in diesem Fall Lucias Bruder Enrico und Raimondo, erwartet. In der Hochzeitsnacht ermächtigt sie sich selbst, verweigert dem aufgezwungenen Gatten Arturo den Beischlaf und ermordet ihn. Auf der Bühne sehen wir diese Szene nicht, sehr wohl aber wie sie der Hochzeitsgesellschaft, also der Öffentlichkeit, blutverschmiert entgegentritt. Einer Verurteilung entzieht sie sich. Sie stirbt. Als ihr Geliebter Edgardo von ihrem Schicksal erfährt, begeht er Selbstmord.
War es Notwehr?
Was zunächst nach konventionellem Intrigenspiel aussieht, mündet in einer Provokation. Die weibliche Hauptperson lässt sich nicht mehr von ihren männlichen Kontrahenten lenken, sondern setzt zur Gegenwehr an. Sie wählt die drastischste aller möglichen Reaktionen: mit brutalem Mord. Der Zuschauer ist erschüttert. Er empfindet Mitleid mit Lucia, die aus reiner Hilflosigkeit in einem Akt tiefster Verzweiflung handelt. Lucias Wahnsinn berührt – und bei der Vereinigung von Glasharmonika beziehungsweise Flöte und hoher Frauenstimme in den filigransten und abenteuerlichsten Koloraturen während der Wahnsinnsszene stockt einem der Atem. Doch ist ein Mord wie auch immer gerechtfertigt, nur weil er im Affekt geschieht und der Zuschauer Empathie mit der schlecht behandelten Täterin empfindet? Lucia ist das Opfer struktureller Gewalt und Diskriminierung, sie wird zum Objekt degradiert. Wir verstehen ihre Tat. Verzeihen wir ihr auch?
Emanzipatives Theater?
Frauen trotz erdrückender gesellschaftlicher Konventionen als autonome Figuren ernst zu nehmen ist die Grundauffassung Amélie Niermeyers. Sie selbst hat sich als Intendantin zunächst am Theater Freiburg, dann am Schauspielhaus Düsseldorf in einer Männerwelt behauptet. Doch rückblickend meint sie, dass sich in der Gesellschaft vieles noch nicht verändert hat. Das hat ihren Blick auf die Stücke heute grundsätzlich verändert. Gesellschaftspolitische Fragen interessieren sie mehr denn je. Aber sie weiß, dass das in Stücken wie Lucia di Lammermoor ein heikles Unterfangen ist. Politische Kommentare, die die heutige Sicht auf die Welt der italienischen Oper überstülpen, sind häufig platt und lediglich moralinsauer. Sie spürt der fragilen aber sensitiven Stimmung der Partitur nach. Die affirmative Kraft der Musik ist Nukleus der szenischen Umsetzung und lässt politische Fragen für den Augenblick in den Hintergrund rücken. Sie nimmt die Geschichten ernst und zertrümmert nicht deren Grundstruktur. Wo man im Schauspiel wie selbstverständlich neue Textebenen einziehen kann, verträgt die Musik das nicht. Aber Amélie Niermeyer verstärkt die im Stück eingeschriebene männliche Dominanz. Corona bedingt ist der Chor von der Bühne in die Seitenlogen des Theaters verbannt. Auf der Bühne gibt es zwei Dutzend Statisten – alles Männer mit Masken, derer sich Lucia und ihre Vertraute Alisa allein erwehren müssen.
Aufstehen und gehen
Die Oper scheint zunächst eine Hoffnung zu formulieren, die wiederum typisch für das 19. Jahrhundert ist. Dass sich Lucia und Edgardo ineinander verlieben und ein gemeinsames Leben trotz der Feindschaft ihrer Familien ist das zentrale Motiv im ersten Akt. Es mutet wiederum konventionell an, doch ist es das mitnichten. Wollte man beweisen, dass die Liebe stärker ist als archaisch anmutende Familienbande, Lucia und Edgardo müssten einfach gehen. Beide sind unfähig, diesen Schritt zu tun. Edgardo erliegt einer platten Intrige, wird Opfer männlicher Seilschaften, denen er natürlich angehört und stellt Lucia wegen ihrer Unterschrift unter den Ehevertrag bloß. Als ginge es allein um sein Ego. Er ist allein von Rachegedanken erfüllt und erkennt erst nach Lucias Sterben, wie auch er verstrickt ist in archaische Verhaltensstrukturen. Er richtet die Waffe gegen sich selbst. Zumindest für Edgardo scheinen die Konventionen von Treue und Ehe oder gar Religion in der Trauer um Lucia aufgelöst. Fast könnte man meinen, diese Erkenntnis im Tod sei ein Versprechen für die Zukunft.