Stephen Gadd, Jennifer France and Jeni Bern in Anthropocene. Scottish Opera 2019.
Stephen Gadd, Jennifer France and Jeni Bern in Anthropocene. Scottish Opera 2019.

Oper für heute

Die Anfänge

Jacopo Peri komponierte Dafne, die früheste bekannte Oper, 1597. Innerhalb weniger Jahrzehnte waren die langen Rezitative und festen Arienformen, die er komponierte, bereits aus der Mode gekommen. Das Publikum wandte sich stattdessen an Monteverdi, dessen Opern wie L'Orfeo, so ein Dichter, der bei der Premiere zugegen war, „die Neigungen des Herzens so geschickt darstellten, dass es nicht besser hätte sein können‟.

Seit über vier Jahrhunderten erfindet sich die Oper immer wieder neu, indem sie mit neuen Ideen experimentiert und sich an veränderte Geschmäcker anpasst. Die Oper ist in ihrer Entstehungszeit verankert. Und während wir viele Werke der Vergangenheit noch schätzen und genießen, können andere unverständlich und veraltet klingen.

Peri weckt heute wenig Neugierde, während Monteverdi Publikum und Theaterprofis gleichermaßen fasziniert. Salieris Handlungsstränge wirken mühsam und seine vermeintliche Virtuosität weniger überzeugend, während wir von Mozart mit seinen genialen musikalischen Umsetzungen von perfekt gearbeiteten Librettos wie Die Hochzeit des Figaro und Don Giovanni kaum genug bekommen können. Und selbst erfahrene Opernbesucher müssen sich auf die vollen fünf Akte einer französischen Grand Opéra wie Halévys La Juive erstmal einlassen, während Verdis La traviata, weniger als zwanzig Jahre später geschrieben, immer noch in aller Ohren ist.

Moderne und postmoderne Oper

Janáčeks, Brittens und Strauss schöne Opern wie Das schlaue Füchslein und Billy Budd werden regelmäßig aufgeführt, aber weit weniger Zuschauer haben die Möglichkeit, die Freude an Werken wie Schönbergs Moses und Aron oder Bergs Lulu zu erleben. Das Repertoire aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg offenbart eine stilistisch extrem vielfältige - wenn nicht gar fragmentierte - Opernlandschaft aus Jazz und Tango, Spätromantik, Mini- und Maximalismus, elektroakustischen Klängen und seriellen Konzepten, dass nur die Mutigsten der Theater es wagen, sie zu verstehen und auf die Bühne zurückzubringen.

Und das 21. Jahrhundert? Jedes Jahr werden zahlreiche neue Opern komponiert und in Auftrag gegeben, wobei einige Opernhäuser und Festivals versuchen, jede Saison mindestens einen neuen Titel uraufzuführen. Die Vielfalt der heute geschriebenen Werke ist fast unerschöpflich, aber sie alle teilen den gemeinsamen Wunsch, etwas von unserer zeitgenössischen Kultur und unseren Anliegen auszudrücken.

Nico Muhlys Oper Two Boys von 2011 etwa ist eine warnende Geschichte über die dunkle Seite des Internets. Andrea Molinos Oper Three Miles Island aus dem Jahr 2012 handelt vom Ausfall und dem berüchtigten radioaktiven Leck in einem Kernkraftwerk in Pennsylvania. Und Daniel Bjarnasons Oper Brothers aus dem Jahr 2017 bietet einen tiefen Einblick in den posttraumatischen Stress eines heimkehrenden Soldaten aus Afghanistan.

Weltpremieren auf OperaVision

Wenn sich die Gesellschaft verändert, verändert sich auch die Oper, die sie erschafft. In einem zeitgenössischen Europa, das seiner in Vielfalt vereint ist, will OperaVision den Facettenreichtum der neuen Werke umsetzen, die heute komponiert und aufgeführt werden, feiern und so weit wie möglich teilen. In dieser Saison sind wir stolz darauf, unserem globalen Publikum fünf brandneue Opern vorgestellt zu haben.

Zwei davon stammen aus der Finnish National Opera. Iiro Rantalas Sanatorio Express ist eine lebendige Sozialsatire über moderne Neurosen und Beziehungen. Mit seiner klassischen Struktur und vielen Jazzelementen in der Musik eignet das Stück sich besonders für Einsteiger und Neugierige, um neues Opernrepertoire zu testen.

Ganz andres dagegen die Oper Ice. Basierend auf einem finnischen Bestseller-Roman aus den frühen 2000er Jahren berührt er Urängste vor Dingen, die wir nicht verstehen oder kontrollieren können. Jaakkos Kuusisto-Musik beschwört die Kräfte der Natur in einem nationalen Mythos herauf, ganz wie Sibelius vor etwas mehr als einem Jahrhundert.

Trois Contes (Drei Erzählungen), ist eine neue Oper von Gérard Pesson, die zum ersten Mal an der Opéra de Lille aufgeführt wurde. Der Komponisten setzt seine drolligen Blickwinkel auf das Geheimnis des Vermächtnisses von Marcel Proust, Hans Christian Andersens Märchen Die Prinzessin und die Erbse und Edgar Allen Poes Der Teufel im Belfried in Musik. Die Oper ist ein herausragendes Beispiel für eine intelligente postmoderne Zusammenstellung zeitloser Erzählungen - und höchst unterhaltsam.

In den letzten zehn Jahren wurde Mary Shelleys Novelle Frankenstein immer mehr auf die Bühne gebracht. La Monnaie / De Munt hat den jüngsten erfolgreichen Versuch unternommen: eine neue Oper, Frankenstein, komponiert von Mark Grey. Die Librettistin Júlia Canosa i Serra lässt die Handlung in nicht allzu ferner Zukunft spielen, in der Wissenschaftler die im Eis eingefrorene Kreatur finden, sie wieder zum Leben erwecken und ihre Vergangenheit kennenlernen, die sich auch in ihrer wissenschaftlichen Gegenwart spiegelt.

Anthropocene schließlich ist eine spannende neue Oper von Stuart MacRae und Louise Welsh, ihre vierte Zusammenarbeit und bisher auch die ehrgeizigste. Der Titel bezieht sich auf ein gesellschaftliches Hottopic - der Einfluss des Menschen auf den Planeten. In diesem Sinne steht die Oper in der Tradition von Philip Glass' bahnbrechender Qatsi-Trilogie der 1980er Jahre, wo allerdings die Polkappen und menschlichen Beziehungen von Zerstörung bedroht sind und nicht das Wohnprojekt Prutt-Igoe.

Zeiten konstanten Wandels

Ice, Frankenstein und Anthropocene spielen alle in einer gefrorenen Welt. „Es ist eine Landschaft, die Mythen heraufbeschwört‟, sagt Louise Welsh, die das Libretto für Anthropocene schrieb. „Viele Leute haben Halluzinationen auf dem Eis, sie sehen Dinge, die nicht da sind.‟ Diese archaischen und gleichzeitig mystischen Orte haben Schriftsteller*innen und Filmemacher*innen seit langem wegen der Geheimnisse, die sie bergen, der Gefahren, die sie darstellen, und des Gefühls der Ewigkeit, das sie ausstrahlen, angesprochen. Aber so wie sich auch Opernkomponisten und Librettist*innen von ihnen inspirieren lassen, wurde genau diese Ewigkeit von Klimaforscher*innen in Frage gestellt.

Alle drei Opern handeln von Außenseitern, Figuren, die in die Gruppe kommen und zu Katalysatoren für Störungen werden. Dies ist auch in den beiden anderen Werken präsent: In Sanatorio Express wird bei einer Frau, die eine Scheidung durchläuft, ihr Rückzugsort für ihre Heilung zum Schauplatz einer Retraumatisierung, als ihr wütender Ehemann erscheint; und in allen drei Geschichten in Trois Contes gibt es eine*n Fremde*n - eine Prinzessin, einen Schriftsteller und den Teufel -, die von Familien und Gemeinschaften, die an ihre Gewohnheiten gebunden sind, mit Argwohn behandelt werden.

La Monnaie / De Munt Dramaturg Antonio Cuenca Ruiz erklärt, dass Frankenstein „uns mit der Gewalt konfrontiert, die wir anderen wegen unserer Vorurteile oder Unterschiede zuzufügen vermögen‟ und dass der ehrgeizige aber rücksichtslose Arzt in der Titelrolle heute in der Gesellschaft lebt und gut ist, da „die Menschheit heute mehr denn je neue Entwicklungen hervorbringt, aber keine Kontrolle über das Ergebnis hat.‟

Seine Worte könnten auch für alle fünf Uraufführungen auf OperaVision in dieser Saison gelten. Sie sind alle einzigartig. Sie erzählen verschiedene Geschichten in unterschiedlichen Musikstilen, die in einzigartigen Produktionen präsentiert werden. Und jede ist in unserer Gegenwart verankert. In einer Welt im Wandel - Gentechnik, allgegenwärtige Social Media, gesichtslose Algorithmen, Erderwärmung und Globalisierung - erzählen diese zehn Librettist*innen und Komponisten mit ihrem Handwerk unsere Geschichte, wie sie sie heute sehen. Es ist eine Geschichte über die Hybris der Menschheit, aktueller den je, über unsere Unfähigkeit, unsere Umwelt richtig und nachhaltig zu behandeln und darüber, wie wir die Kontrolle über unser Schicksal verloren haben. Werden Sanatorio Express, Ice, Trois Contes, Frankenstein und Anthropocene auch in vier Jahrhunderten noch inszeniert und vom Publikum positiv aufgenommen? Die Zukunft wird es zeigen...