Nixon in China

Geschichte(n) auf der Opernbühne

Geschichte hat schon immer die Fantasie von Opernkomponist:innen angeregt. Neben den unzähligen Werken, die auf Romanen, Volkssagen oder fiktiven Erzählungen basieren, widmen sich Opern eben auch realen Feldherren, Königinnen oder politischen Akteur:innen unserer Zeit – grotesk überzeichnet, heroisch überhöht, psychologisch analysiert oder menschlich nachvollziehbar. Auf OperaVision wurden in den letzten Monaten einige Opern gezeigt – darunter ein moderner Klassiker und drei Uraufführungen –, die sich auf ganz unterschiedliche Weise mit Ereignissen der jüngeren Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts auseinandersetzen und uns eine Kostprobe von der Bandbreite „historischer“ Opern heute geben.


Gefühlvolle Rückschau auf ein Leben


Im Mittelpunkt der Oper 264, That One Star von Kim Sungjae, die im Oktober 2024 uraufgeführt wurde, steht das Leben des koreanischen Schriftstellers Yi Won-rok (1904–1944). Unter dem Pseudonym Yi Yuksa war er eine der stärksten Stimmen in der Unabhängigkeitsbewegung zur Zeit der japanischen Kolonialherrschaft.

Die Oper erzählt die Geschichte Yi Yuksas als Rückschau, der kurz vor seinem Tod in Gefangenschaft sein Leben Revue passieren lässt: Ihm zur Seite steht eine Figur, die als „Seelenverwandte“ den Dichter zu verschiedenen Stationen seiner Vergangenheit führt. Dabei wird auch ein einschneidender Moment in der koreanischen Geschichte aufgegriffen: Das Kantō-Massaker von 1923, bei dem nach einem Erdbeben auf der japanischen Insel Honshū Hunderte (inoffiziellen Zahlen zufolge sogar bis zu 6000) Koreaner:innen durch das japanische Militär getötet wurden.

Neben privaten Momenten seines Lebens dient die Schilderung dieses historischen Ereignisses als Spiegel von Yi Yuksas Gedanken, die durch leidenschaftliche Arien und opulente Chornummern gefühlvoll interpretiert werden. Die Größe von Yi Yuksas Ambitionen und seines politischen Engagements spiegeln sich auch im Bühnenbild wider: Wie Mahnmale überragen riesige aufgeschlagene Bücher und Papierbögen den Dichter, der sich, wie viele Menschen, die Frage stellt, wie man sich nach seinem Tod an ihn erinnern wird. Zwar gibt die „Seelenverwandte“ zu bedenken: „Diese Geschichte wird enden, und sie wird vergessen werden.“ Dennoch endet die Oper hoffnungsvoll, wenn es Yi Yuksa schließlich gelingt – bildlich dargestellt als die Verbrüderung mit seinen „Vergangenheits-Ichs“ –, sich mit seiner eigenen Geschichte auszusöhnen.

Politik als Mythos


Auch John Adams wählte für das Sujet seiner ersten Oper Nixon in China eine reale Figur: US-Präsident Richard Nixon, der im Jahr der Uraufführung 1987 sogar noch am Leben war. Dieser Meilenstein des amerikanischen Repertoires widmet sich einem politischen Ereignis, das zu ihrer Entstehungszeit nur einige Jahre zurücklag: den historisch bedeutsamen Besuch von Nixon in der Volksrepublik China im Februar 1972.

In ihrer Oper beleuchten Adams und die Librettistin Alice Goodman in präzisen Schlaglichtern die Etappen des Staatsbesuchs: die Ankunft der US-Delegation; Staatsbankette mit Mao Zedong und Zhou Enlai; Pat Nixons Besuche in Fabriken; die Ballettaufführung von Maos Frau Jiang Qing. Nicht zuletzt dank ihrer akribischen Recherchen gelang Goodman ein eloquentes Libretto, das Tiefsinn und Humor sowie großes dramatisches Gefühl bietet und diese detailgetreuen Szenen so faszinierend macht.

Auf der öffentlichen Bühne agiert Richard Nixon als strahlender Held in seinem Bemühen, die vereisten politischen Beziehungen zwischen den USA und China zum Auftauen zu bringen, während Mao Zedong vor seinen Staatsgästen pointierte Reden schwingt. Doch Goodman und Adams wagen einen Blick hinter die Fassage, wenn sie hinter der politischen Inszenierung die menschlichen Seiten der Protagonist:innen hervortreten lassen. Insbesondere im letzten Akt, wenn in intimen Monologen und Dialogen die Schwächen und Zweifel der Protagonist:innen offengelegt werden, keimt die Frage auf: Inwiefern wird ein Individuum erst durch den öffentlichen Blick zum Mythos stilisiert? Die Oper endet mit einem nachdenklichen Monolog Zhou Enlais, in dem er über die Sinnhaftigkeit von politischen Handelns und die Vergänglichkeit menschlichen Strebens reflektiert: „How much of what we did was good?“ – „Wie viel von dem, was wir taten, war gut?“

Radikale Reflexion


Im selben Jahr von Nixons Besuch in China, am 5. September 1972, verübten Mitglieder der palästinensischen Terrorgruppe „Schwarzer September“ während der Olympischen Spiele in München einen Anschlag, bei dem elf israelische Sportler getötet wurden. Mehr als 50 Jahre später, im Januar 2025, wird Michael Wertmüllers Oper Echo 72. Israel in München uraufgeführt.

Ausgehend von diesem erschütternden Ereignis entfaltet das Libretto von Roland Schimmelpfennig eine Projektionsfläche für die Gemengelage aus Fakten, extremen Gefühlen sowie Fragen des Fremdseins und gegenseitigen Verstehens. Die Figur der „Klage“ fungiert dabei als übergeordnete Berichterstatterin, die – wie ein sich ständig wiederholendes Fernsehprogramm – den Ablauf des Attentats nüchtern schildert.

Die Sportler:innen stehen als symbolische Verkörperungen ihrer Disziplinen und für die Reflexion des Geschehens. Ihre Kommentare changieren zwischen Stolz und Nachdenklichkeit: von dem Trainer der Leichtathletin, der sich aufrichtig zu seinem Land bekennt, über den Gewichtheber, der über die Last kollektiver Geschichte reflektiert, bis zu den Fechterinnen, deren technische Beobachtung vor dem Hintergrund der Geiselnahme eine enorme Tiefe erhält: „Immer gibt es eine Blöße, immer kann dich dein Gegner treffen. […] Wer dich treffen will, wird dich treffen, was es auch kostet, und koste es alles.“

Umrahmt wird das Geschehen vom Chor, der – wie der Kommentator in der griechischen Tragödie – am Anfang die Euphorie, am Ende die Verzweiflung zum Ausdruck bringt. Und doch blitzt auch Hoffnung auf, wenn der Chor beim Auszug der Sportler:innen eindringlich an die Kraft der Menschlichkeit appelliert: „Diese Freiheit kann uns niemand nehmen […] selbst, wenn es ihm gelingt, wenn er Hass und Tod über uns bringt, gelingt es ihm doch nicht, denn das Spiel geht trotzdem weiter – es kann nicht aufhören, und es darf nicht aufhören.“ The games must go on.

Unsere Zukunft als Planspiel


Kaum eine Oper könnte näher an unserer Gegenwart sein als The Shell Trial. Als Reaktion auf den 2019 begonnenen Prozess gegen den Ölkonzern Shell, der weltweit für Aufsehen sorgte, erschien bereits 2020 das Theaterstück De zaak Shell von Rebekka de Wit und Anoek Nuyens; im März 2024 feierte die darauf basierende Oper ihre Uraufführung in Amsterdam. Die neue Oper widmet sich einem wahrhaft ungewöhnlichen Stoff: Nicht eine Geschichte steht im Mittelpunkt, sondern viele – ein gewaltiger Komplex politischer und gesellschaftlicher Fragen angesichts der Klimakrise.

The Shell Trial ist nicht als Oper im klassischen Sinne konzipiert, sondern als eine Art Planspiel, in dem sich formale Bezüge zu verschiedenen Genres wie dem Oratorium oder der Nummernrevue erkennen lassen. Eingeleitet durch die Figur der Künstlerin werden verschiedene Standpunkte zur Klimakrise durch Archetypen ausgedrückt: Den Personifizierungen des Gesetzes und der Regierung stehen Repräsentant:innen der vielfältigen Stimmen der Gesellschaft gegenüber, wodurch dem Publikum Identifikationsmöglichkeiten für das Publikum geschaffen werden.

Im Gerichtssaal wie in der Oper geht es immer um Macht. Während Richter:innen die Macht haben, über das Leben von Angeklagten zu bestimmen, behandelt auch The Shell Trial essentielle Fragen von Machtverhältnissen und dem Gefühl der Machtlosigkeit, aber auch der aktiven Ermächtigung angesichts dieser globalen Krise. Am Ende der Oper ist die Krise zwar nicht überwunden, aber es besteht die Möglichkeit, das eigene Handeln zu hinterfragen. Die Worte der Künstlerin beschreiben die Qualität, die die Kunstform der Oper in unserer heutigen Zeit haben kann: „I will play my part, which is not to save the world, but to reflect it.” – “Ich werde meine Rolle spielen, die nicht darin besteht, die Welt zu retten, sondern sie zu reflektieren.“

Hoffnungsvoller Ausblick


Am 12. November 2024 – nur wenige Wochen vor der Ausstrahlung von The Shell Trial auf OperaVision – endete das Revisionsverfahren gegen Shell, das Urteil wurde zugunsten des Konzerns aufgehoben. Doch die Hauptklägerin, die niederländische Milieudefensie, wird weiterkämpfen!

Sicherlich kann keine dieser Opern Antworten auf die drängenden Fragen unserer Zeit liefern. Aber vielleicht helfen uns Opern, die sich mit konkreten Augenblicken unserer Vergangenheit auseinandersetzen, immerhin zu verstehen, dass Geschichte nie abgeschlossen ist, sondern in die Gegenwart hinein wirkt und uns – klüger, stärker, hoffnungsvoller – in die Zukunft blicken lässt. So schließt das Libretto von The Shell Trial mit den Worten: „The future is uncertain. And that’s hopeful. For now. END.” – „Die Zukunft ist ungewiss. Und das macht Hoffnung. Für jetzt. ENDE.“

 

Hannes Föst